Archiv der Kategorie: zukunftsfähig

TEMPORÄRE VERDICHTUNG VON ZIELORIENTIERTER DIVERSER GEMEINSAMKEIT

UNIVERSELLE PROZESSPLANUNG
24.Aug 2021 – 25.Aug 2021
URL: oksimo.org
Email: info@oksimo.org

Gerd Doeben-Henisch (gerd@oksimo.org)

KONTEXT

Dieser Text ist Teil des Themas OKSIMO WELTMODELL im oksimo.org Blog.

TEMPORÄRE VERDICHTUNG VON ZIELORIENTIERTER DIVERSER GEMEINSAMKEIT

Zusammenfassung

In diesem Beitrag wird zunächst der gesellschaftliche Anwendungskontext von oksimo umrissen. Dann folgt eine Charakterisierung des möglichen Outputs eines oksimo Kommunikationsprozesses: letztlich generiert ein oksimo Kommunikationsprozess ‚by design‘ eine empirische Theorie, die man simulieren (=testen), spielen und evaluieren kann. Durch die freie Wahl an Zielen, Abstraktionen und Konkretheiten bietet sich ein oksimo Kommunikationsprozess als ideales Werkzeug für eine experimentelle Zukunftsgestaltung an.

Vorbemerkung

Da das oksimo Projekt recht komplex ist, wundert es nicht, dass trotz all der schon geschriebenen Texte und der vielen Bilder und Videos immer wieder noch Fragen aufkommen, was denn oksimo genau ist. Bei der Vielzahl von Perspektiven kann es nicht nur eine Antwort geben, deswegen sei hier eine neue Antwort hinzugefügt, deren Gedanken sich unterschiedlichen Gesprächen verdanken.[1]

Forschungsprozesse/ Planungsprozesse

Typische Grundelemente von Planungsprozessen sind im Bild 1 angedeutet: ausgehend von einem Problem muss ein mögliches Ziel ermittelt werden, und dann muss ein Weg gefunden werden, auf dem es innerhalb gesetzter Eckwerte möglich ist, das Ziel real einzulösen.

BILD 1: Grundelemente eines Planungsprozesses

Ist die Bestimmung eines Zieles zu einer gegebenen Ausgangslage bzw. eines Weges eher Neuland, hat der ganze Prozess eher den Charakter von Forschung. Existieren schon praktisch verwertbare Erkenntnisse, hat das Ganze eher den Charakter eines normalen Planungsprozesses.

Ein eingeschränkte Blick nur auf den Planungsprozess kann dazu führen, dass man leicht übersieht, in welchem Umfeld solche Planungs- bzw. Forschungsprozesse stattfinden.

BILD 2: Im Netzwerk der vielen Weltbilder

Wie Bild 2 andeutet, reden wir zwar gerne von der realen Welt, vom realen Alltag, aber die wichtigsten Akteure des Alltags, wir Menschen, erleben den Alltag nur im Medium unserer Gehirnzustände, die zu jedem Zeitpunkt ein bestimmtes individuelles mentales Bild der Welt um uns herum zur Verfügung haben, hervorgegangen aus einer individuellen Lerngeschichte. Und schaut man sich die verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen an, dann hat jede von diesen ihr fachspezifisches Weltbild. Wie die Alltagserfahrung lehrt, ist eine Kommunikation zwischen oder über den verschiedenen Disziplinen eher schwierig wenn nicht gar weitgehend unmöglich. Zusätzlich gibt es im Alltag eine Vielzahl von gesellschaftlichen Institutionen (Ämter, Behörden, Kommunen, Landkreise, Bundesländer, …, Gerichte, Krankenhäuser, Pflegeheime, Bildungseinrichtungen, … Vereine, Firmen, …), wobei jede einzelne durch eine Vielzahl von Regeln definiert ist, die sich zudem in vielfältigen Rollen verdichten. Jede Institution repräsentiert eine bestimmte Form von sich selbst erschaffender Realität die sich wiederum in den mentalen Modellen der Beteiligten widerspiegeln.

Wenn also Menschen zusammen kommen, um Probleme in Lösungen zu überführen, Probleme zu erforschen oder Lösungen zu planen, dann bringen sie alle diese individuellen und fachspezifischen Weltbilder mit, dazu noch — je nach Zugehörigkeit zu einer Institution — spezifische Rollenmuster aus eben diesen Institutionen. Die tägliche Praxis des Planens und Forschens zeigt, dass bei Zunahme der Vielfalt (Diversität) ein Prozess an seiner Vielfalt ersticken kann.

BILD 3: Der oksimo Prozess als temporäre Verdichtung von zielorientierter diverser Gemeinsamkeit

Bild 3 deutet an, wo und wie sich ein durch die oksimo Software gestützter Handlungsraum in diesem Geflecht einordnen kann und sollte. Hier einige Punkte:

  1. Damit die Barriere für eine gemeinsame Kommunikation möglichst niedrig ist, sollte eine gemeinsame Sprache benutzt werden. Mit oksimo kann man die normale Sprache benutzen. Da oksimo nahezu jede normale Sprache erlaubt [2], können also Menschen aller Nationen direkt miteinander sprechen. Jede normale Sprache kann durch fachsprachliche Ausdrücke erweitert werden, z.B. auch durch Zahlausdrücke und Formeln. Diese Erweiterungen sind prinzipiell auch innerhalb von oksimo möglich, brauchen aber zusätzliche Entwicklungszeit.
  2. Damit die reale Vielfalt von Meinungen möglichst weitgehend in einen oksimo Diskurs Eingang finden kann, ist jeder Teilnehmer an einem oksimo Diskurs gleichberechtigt.
  3. Da ein wirkliches Vertrauen in einer Gruppe nur entstehen kann, wenn es völlige Transparenz gibt, sind alle Informationen einer Kommunikation allen Beteiligten zugänglich.
  4. Damit die gemeinsame Entwicklung einer Idee von möglichst wenig Strukturen behindert wird, kann das aktuelle Ergebnis der Kommunikation im Prozess an jeder Stelle und zu jedem Zeitpunkt getestet (= simuliert), gespielt und geändert werden. Im Spielmodus heißt dies, dass ein Teilnehmer während des Spielens beantragen kann, eine bestehende ‚Regel‘ zu ändern. Wird dies übernommen, spielen alle mit der veränderten ‚Regel‘ weiter, wenn nicht, dann können ab diesem Zeitpunkt zwei Gruppen weiter spielen: jede Gruppe testet dann die jeweilige Variante aus. Selbst Teile des anfänglichen Ziels (der Vision) können sich kontextabhängig ändern.
  5. Sofern innerhalb des Kommunikationsprozesses ein Problemraum hinreichend definiert ist, kann man zur weiteren Erkundung beliebige intelligente Algorithmen einsetzen. Ihre genaue interne Funktionsweise spielt keine Rolle. Sie werden über ihr Verhalten evaluiert.

Mögliche Ergebnisse einer oksimo Kommunikation

Die bisherige Beschreibung schildert die Rahmenbedingungen und die Form einer oksimo Kommunikation. Das eigentliche Ziel einer solchen Kommunikation ist aber letztlich ein Text, der einen Prozess beschreibt, mit dem man von einer gegebenen Situation zu einer zukünftigen Situation kommen kann. oksimo verwandelt den primären Text, der als Drehbuch eingegeben wird, in folgende Elemente:

  1. Eine Reihe von Texten, die zusammen eine Ausgangssituation beschreiben.
  2. Eine Reihe von Texten, die zusammen ein gewünschtes Ziel (Vision) beschreiben.
  3. Eine Menge von Veränderungsregeln, die für eine bestimmte aktuelle Situation festlegen, in welchem Sinne diese aktuelle Situation in eine Nachfolgesituation abgeändert werden soll.

oksimo produziert Theorien

Wenn man nun berücksichtigt, dass der Kern des oksimo Programms ein Simulator ist, der für eine gegebene aktuelle Situation prüfen kann, welche der verfügbaren Veränderungsregeln auf diese anwendbar sind, um eine Nachfolgesituation zu erzeugen, dann wird klar, dass das oksimo Programm letztlich die minimale Struktur einer Theorie bereitstellt:

< Ausgangslage [S0] Ziel [V0], Regeln [R], Simulator [Σ]>

Der Simulator funktioniert in diesem Kontext als ein Folgerungsbegriff, der festlegt, welche Ergebnisse bei einer bestimmten Vorgabe möglich sind. Drei Haupttypen werden unterschieden:

(0) S,V ⊩ ∑ R V‘

(1) S ⊩ ∑ R S‘

(2) S ⊩ ∑ V %Goal

Im Fall (0) kann der Simulator Σ nach vorgegebenen Veränderungsregeln R aus einer gegebenen Situation S und einem gegebenen Ziel V das Ziel V in ein abgeändertes Ziel V‘ verändern.

Im Fall (1) kann der Simulator Σ nach vorgegebenen Veränderungsregeln R aus einer gegebenen Situation S eine neue, abgeänderte Situation S‘ generieren.

Im Fall (2) kann der Simulator Σ mit einem vorgegebenen Ziel V für eine gegebenen Situation S berechnen, zu wie viel % das gegebene Ziel in der aktuellen Situation enthalten ist.

Eine Anfangssituation S0 mit Regeln R kann man dann als einen Theoriekern verstehen, und der Folgerungsmechanismus im Format des Simulators Σ generiert aus diesem Theoriekern <S0, R > eine — möglicherweise endlich unendliche — Menge von möglichen Nachfolgesituationen. Ein Teil von diesen Nachfolgesituation enthält das formulierte Ziel nicht, andere mehr oder weniger stark.

Auf der Ebene der Ausdrücke alleine entspricht dieses Schema einer normalen formalen Theorie mit Folgerungsbegriff. Innerhalb dieses Schemas könnte man die bekannte formale Logik simulieren.

Bedeutung: empirisch – abstrakt

Dadurch, dass die Ausdrücke aber Ausdrücke einer normalen Sprache L sind und die Teilnehmer an einer oksimo Kommunikation Menschen sind, die jeweils individuell und doch auch bis zu einem gewissen Grad gemeinsam in ihren Gehirnen eine Bedeutungsfunktion [μ] zur Sprache L gelernt haben, können die Teilnehmer der oksimo Kommunikation in jedem einzelnen Fall feststellen, ob sie den formalen Ausdrücken mit Hilfe ihres Bedeutungswissens im Lichte der Bedeutungsfunktion μ eine Bedeutung zuordnen können. Hier kann man grob folgende Fälle unterscheiden:

  1. Die verstandene Bedeutung hat hinreichende Korrespondenzen in der aktuellen gemeinsamen beobachtbaren Körperwelt des Alltags, so dass sich alle Kommunikationsteilnehmer darüber verständigen können, ob ein bestimmter empirischer Sachverhalt aktuell (jetzt) ‚zutrifft‚ (‚wahr ist‚) oder nicht.
  2. Eine verstandene Bedeutung muss aber keine hinreichende Korrespondenzen in der aktuellen gemeinsamen beobachtbaren Körperwelt des Alltags haben. (Wenn z.B. gesagt wird, dass hinter der weißen Tür ein roter Tisch steht, oder dass morgen Bill ankommen wird oder …). Aufgrund des Alltagswissen nehmen die meisten dann an, dass es so sein könnte.
  3. Eine verstandene Bedeutung ohne eine hinreichende Korrespondenzen in der aktuellen gemeinsamen beobachtbaren Körperwelt des Alltags kann aber beliebig abstrakt sein, so dass die Frage, ob eine denkbare Bedeutung irgendwie Sinn macht, also unter bestimmten zukünftigen Bedingungen doch empirisch real werden könnte, in vielen Fällen nur schwer oder gar nicht beantwortbar ist. Trotzdem können selbst solche aktuell nicht entscheidbaren Bedeutungen unter veränderten Bedingungen plötzlich doch ’sinnvoll‘ werden.
  4. Ein spezieller Fall von Abstraktheit liegt vor, wenn Ausdrücke eingeführt werden, deren Bedeutung nicht selbst empirisch ist, sondern Bezug nimmt auf andere Ausdrücke, deren Bedeutung eine empirische Bedeutung haben können. Solche Beziehungen zwischen Ausdrücken können beliebig lang sein: ‚Spielsteine -> Schach -> weiße Dame‘ oder ‚Holz -> Figuren -> Spielsteine -> Schach -> weiße Dame‘ usw. Bezeichnet man Ausdrücke mit einer direkt zuordenbaren empirischen Bedeutung als zur Abstraktheitsstufe 0 gehörig, dann würden die Abstraktheitsstufen immer höher werden, je weiter ‚entfernt‘ ein Ausdruck in solch einer Zuordnungskette von einem Ausdruck aus Abstraktheitsstufe 0 ist.

Wege in die Zukunft

Das, was wir ‚Zukunft‘ nennen, existiert bekanntlich nicht als ein ’normales Objekt‘; Zukunft existiert überhaupt nicht. Unser Denken kennt nur stark modifizierte Bilder von Fragmenten aus dem, was wir ‚Vergangenheit‘ nennen und stark modifizierte Bilder von dem, was wir ‚Gegenwart‘ nennen. Aus diesen Quellen kann das, was wir ‚Denken‘ nennen, neuartige Bilder generieren, von denen wir entscheiden müssen, was wir davon halten: ‚Völlig unsinnig‘? ‚Vielleicht möglich?‘ ‚Ziemlich wahrscheinlich!’… Aufgrund von empirischen Erkenntnissen haben wir eine Menge von ‚Regelhaftigkeiten‘ im Kontext der empirischen Welt identifiziert, denen wir eine hohe Wahrscheinlichkeit zuordnen, und mittels deren wir sowohl den möglichen Prozessverlauf der Erde oder des Universums seit einem theoretisch vermuteten Anfangszeitpunkt als auch hin zu einem in die Zukunft reichenden theoretisch vermuteten Entwicklungspunkt extrapolieren können. Die bis heute bekannten Regelhaftigkeiten, die einigermaßen ‚fest‘ erscheinen, erfassen aber nur einen Teil der real wirkenden Faktoren, und speziell alle Faktoren im Umfeld biologischer Systeme sind mehr oder weniger nicht voraussagbar.

Vor dem Auftreten von uns Menschen — dem homo sapiens — und ähnlichen Lebensformen mit Sprache konnten sich Innovationen nur über die biologische Reproduktion realisieren. Diese war dadurch in gewisser Weise ‚langsam‘, aber — wie sich in der Geschichte zeigt — doch ziemlich robust und stabil. Trotz gewaltiger Katastrophen hat es das biologische Leben geschafft, immerhin ca. 3.5 Milliarden Jahre nicht nur zu überstehen, sondern unfassbar komplexe Organismen und organismische Netzwelten zu entwickeln.

Mit der zunehmenden Abstraktionsfähigkeit von höheren biologischen Lebensformen, dann noch verstärkt durch ein leistungsfähiges Sprachsystem, wie bei uns Menschen, konnte die Innovationskraft sowohl in der Geschwindigkeit wie auch in der Komplexität erheblich gesteigert werden. Die Auswirkungen sind in den letzten Jahrtausenden deutlich spürbar, mit einer rasanten wachsenden Beschleunigung. Was wir aber heute sehen, können ist, dass die Entwicklung von innovativen Strukturen so schnell ist, dass die negativen Auswirkungen erst gemerkt werden, wenn es möglicherweise für die Lebensform des Menschen — wie auch der meisten anderen biologischen Lebensformen — fast schon zu spät ist. Das aktuell umlaufende Wort ‚Klimakrise‘ gibt diese negativen Wirkungen nur bruchstückhaft wieder. Das gesamte biologische System samt der dazu notwendigen Umwelt ist im Mark getroffen.

ANMERKUNGEN

[1] Ganz wichtig zu nennen die Relektüre des Buches ‚Logic. The Theory of Inquiry‘ von John Dewey (1938), dann Gespräche mit Mirko de Paoli, sowie eine längere Diskussion mit Philipp Westermeier.

[2] Die Einschränkung ’nahezu jede‘ normale Sprache hat damit zu tun, dass es Sprachen mit speziellen Notationssystemen gibt un d es nicht absehbar ist, ab wann die Eingabemöglichkeiten von oksimo alle Notationssysteme verarbeiten können. Dies ist kein prinzipielles sondern nur ein praktisches Problem.

MEDIA

Hier ein kurzer Audiotrack mit mündlichem Kommentar zum Post. Fokussierung auf die Kernidee.

OKSIMO PARADIGMA und DEMOKRATIE – Wie belastbar ist die Demokratie – Vorländer, FAZ, 9.Aug.2021, S.6

UNIVERSELLE PROZESSPLANUNG
10.Aug 2021 – 12.Aug 2021
URL: oksimo.org
Email: info@oksimo.org

Autor: Gerd Doeben-Henisch (gerd@oksimo.org)

KONTEXT

Dieser Text ist Teil des Themenknotens DEMOKRATIE innerhalb des BEGRIFFLICHEN RAHMENS ZUM OKSIMO PARADIGMA innerhalb des oksimo.org Blogs.

POSITION VON VORLÄNDER

Die Position von Prof. Dr. Hans Vorländer — u.a. Direktor, Zentrum für Verfassungs- und Demokratieforschung an der TU Dresden — soll hier in kurzen Thesen angeleuchtet werden. Daran sollen sich Überlegungen anschließen, die speziell den möglichen Zusammenhang mit dem oksimo Paradigma thematisieren.

Hermeneutik: Wenn eine Person A den Text von anderen Personen liest, dann wird die Person A diesen Text immer (es gibt kein Entkommen) im Lichte ihrer aktuellen Wissensvoraussetzungen lesen. Diese resultieren aus einer individuellen Lerngeschichte und dieses Wissen kann sich kontinuierlich weiter ändern, z.B. schon durch die Lektüre und die aktive Auseinandersetzung mit dem Text. Wer also wissen will, was der Autor (hier Herr Vorländer) selbst geschrieben hat, muss diesen Text selbst lesen. Sollten Sie dies tun, wundern Sie sich bitte nicht, wenn Sie diesen Text ganz anders verstehen sollten wie der Autor in diesem Blog … es gibt nicht zwei Gehirne auf dieser Welt, die ‚gleich‘ sind. Diese Verschiedenheit ist unser Glück; gäbe es sie nicht, würden wir aufgrund von Monotonie in einer sich ständig rasant ändernden Welt alsbald schlicht untergehen …

ARTIKEL VORLÄNDER

(1) Der Grundtenor des Artikels von Hans Vorländer ist — und dies in Übereinstimmung mit dem schwedischen Forschungsinstitut Varieties of Democracies [V-Dem][1] –, dass die liberalen Demokratien unter einem starken Druck stehen, den man sehr wohl als besorgniserregend einstufen kann.

(2) Jenseits der nackten Zahlen, die das V-Dem vorlegt, nach denen es 1990 weltweit nur 41 Staaten gab, die man als liberaler Demokratien bezeichnen könnte, und dass seit 1990 sich diese Zahl auf nur noch 32 reduziert hat — also alle ca. 3 Jahre eine liberale Demokratie weniger –, sind die konkreten Umstände, unter denen heute liberale Demokratien existieren, sehr wohl ein möglicher Weckruf für alle, die mit dem Konzept der liberalen Demokratie wichtige Wertvorstellungen verknüpfen.

(3) Den Unterschied zwischen einer liberalen Demokratie und einer bloßen Wahl-Demokratie sieht Vorländer im Vorhandensein und Funktionieren von Elementen wie z.B. Gewaltenteilung, Unabhängigkeit von Justiz und Medien, Freiheit der Meinungsäußerung, diskriminierungsfreie Umgang mit Minderheiten, Anerkennung soziokultureller Vielfalt, Schutz von Grund- und Menschenrechten, und fairer politischer Wettbewerb.

(4) Aber selbst in den noch liberalen Demokratien geraten diese Elemente — und noch weitere — zunehmend unter Druck und es ist eine offene Frage, wie resilient (widerstandsfähig) liberale Demokratien sind, um diesen Druck zu überstehen.

(5) Mit Blick auf Prof. Przeworski von der New York University [2] stellt er — fast beruhigend — fest, dass sich bislang kein festes Muster erkennen lässt, wann und wie Demokratien sich auflösen und zerfallen; es gibt allerdings viele einzelne Faktoren, deren Funktionsuntüchtigkeit einen möglichen Niedergang begünstigen könnten.

(6) Krisen sind besondere gesellschaftliche Zustände (z.B. Bankenkrise, Finanzkrise, Migrationskrise, Eurokrise, Stabilisierungsmechanismen des Internationalen Währungsfonds, Corona Pandemie, Flutkatastrophen, …), in denen staatliches Handeln gefordert ist und wo es das Vertrauen der Bürger in die demokratischen Institutionen stärken kann. Die Art und Weise der Kommunikation mit den Bürgern spielt dabei eine wichtige Rolle.

(7) Spätestens die Corona-Pandemie hat deutlich gezeigt, dass es viel Missmut und Kritik gegeben hat. Die Tendenz zum Unterlaufen der üblichen demokratischen Verfahren durch Rückgriff auf anonyme Expertenrunden war einer der kritischen Punkte in der aktuellen Corona Pandeemie. Dazu wurden zahlreiche extremistische Strömungen sichtbar, die nicht erst seit Corona existieren, sondern schon viele Jahre Europaweit und in den USA unüberhörbar von sich reden machen. Für solche eher extremistische Gruppierungen, die Demokratien grundsätzlich in Frage stellen, sind Krisen — wie z.B. Corona oder Flutkatastrophen — und die unglückliche Handhabung demokratischer Verfahren eine willkommene Gelegenheit sich in Szene zu setzen.

(8) Doch darf man sich durch die Einmischung radikaler Gruppierungen nicht darüber hinweg täuschen lassen, dass auch normale Bürger berechtigte Sorgen haben, Zweifel hegen, ja sogar wütend sind auf die Art und Weise, wie politische Repräsentanten und Institutionen agieren.

(9) Diese Kritik hat schon seit Jahren zu einer wachsenden Entfremdung zwischen Bürgern und staatlichen Institutionen, ihren Parlamenten, ja sogar zu den Parteien geführt, die doch eigentlich die unmittelbare Verbindung von Bürgern und demokratischen politischen Institutionen ermöglichen sollten. So hat der Parlamentarismus und die politischen Parteien am meisten an Anerkennung und Akzeptanz verloren. Bürger fühlen sich immer weniger durch die Parteien vertreten. Es gibt deutliche Zeichen von Entfremdung in der gefühlten Distanz zwischen Regierenden und Regierten. Viele bislang üblichen sozialen Infrastrukturen zur Vermittlung zwischen Bürger und Politikern sind heute deutlich geschwächt oder ganz weg.

(10) Doch gibt es neben den politischen Parteien nicht Nichts; es gibt das neue Phänomen von ‚Bewegungen‘, die außerhalb der Parteien ihre Interessen zu vertreten suchen. Diese Bewegungen mit oft starken Führungsfiguren deuten einen Wandel der liberalen Demokratien an, wenngleich bislang in konstitutionellen Bahnen. Damit einhergehend meint Vorländer die Tendenz zu einer Hyperpersonalisierung zu erkennen. Vielleicht ist es kein Zufall, dass dieses Phänomen der vielen neuen Bewegungen parallel auftritt zur neuen Allgegenwart des Internets mit all seinen vielfältigen sozialen Medien (Twitter, messenger Dienste, …). Empörungen, Erregungen, und Stimmungen wirken direkter und können schneller und stärker die Meinungen beeinflussen. Diese Meinungen spielen sich außerhalb der Institutionen ab; es fehlen vermittelnde Räume. Am Beispiel des Trumpismus (aber nicht nur da) kann man sehen, wie der direkte Zusammenschluss zwischen populistischen Strömungen und ihrer Führer gesucht wird, um damit die kritisierten demokratischen Institutionen einfach zu umgehen.

GEDANKEN ZUM ARTIKEL

  1. Die obigen Punkte bilden nur einen Ausschnitt aus dem breiten Bild, das Hans Vorländer zeichnet, ein Ausschnitt dessen Auswahl und Zuschnitt auf den Autor dieses Diskurses zurückgeht (siehe den einleitenden Punkt ‚Hermeneutik‘).
  2. Für die weiterführenden Überlegungen soll auch — mit einem Seitenblick — der interessante Beitrag von Wolfgang Schäuble nicht unberücksichtigt bleiben.
  3. Aus der Sicht des oksimo Paradigmas richtet sich der Fokus der Überlegungen auf die Akteure in diesem Feld der liberalen Demokratie, auf jene, die staatliche Institutionen vertreten, politische Gremien, die politischen Parteien, und jene, die allgemein als Bürger gelten, die in diesem Staat leben, z.T. auch wählen dürfen, aber zwischen den Wahlen nahezu keine ’normalen‘ Mitwirkungsmöglichkeiten haben.
  4. In einer liberalen Demokratie ist die staatliche Gewalt an die gewählten Parlamente delegiert, die von unterschiedlichen Institutionen unterstützt werden. Idealerweise sollen die Parlamente die Aufgaben der Gesellschaft mit Blick auf die Zukunft und die unterschiedlichen Lebensverhältnisse im Land erkennen und in möglichst optimaler Weise, speziell auch nachhaltig, zukunftsfähig machen. Jede Gegenwart ist ein Ausschnitt aus der möglichen Zukunft von Gestern. Wurde gestern mit Blick auf die mögliche Zukunft schlecht gehandelt, dann ist die aktuelle Gegenwart das Ergebnis solcher Versäumnisse.
  5. Für die Frage nach einer nachhaltigen Zukunft für eine liberale Demokratie sind daher weniger Einzelereignisse interessant, weniger Ausnahmesituationen, weniger individuelle Skandale, sondern eher der alltägliche Prozess, in dem alle involviert sind, und der geeignet ist, alle Bürger in ihrer Vielfalt auf nachhaltige Weise für eine entsprechend nachhaltige Zukunft vorzubereiten, zu befähigen, und zu begeistern. Womit sich die Frage stellt, wie denn das Format des alltäglichen Prozesses in einer liberalen Demokratie beschaffen sein sollte, damit eine nachhaltige Zukunft zumindest wahrscheinlich sein könnte, wenngleich ohne eine 100%-tige Garantie, dass es auch tatsächlich gelingt.
  6. Hans Vorländer lässt in seinem Beitrag viele Aspekte aufblitzen. Hier möchte ich nur zwei Aspekte herausgreifen, die aus Sicht des oksimo Paradigmas von besonderem Interesse sind: das ist einmal (i) die große Entfremdung der Bürger von den politischen Parteien (und umgekehrt!), und zum anderen (ii) die unübersehbare Entstehung und Erstarkung von außerparlamentarischen Bewegungen aller Art.
  7. Würden die politischen Parteien diese Bewegungen aufgreifen, würden die Parlamente eine neue, intensive Kommunikation mit diesen Bewegungen suchen, dann könnten diese neuen dynamischen Bewegungen möglicherweise zu einer Verlebendigung der bestehenden Parteien und Parlamente führen; vielleicht. Bislang überwiegt aber der Eindruck einer bestehenden und zunehmenden Entfremdung zwischen neuen Bewegungen und etablierten Parteien und Parlamenten. Würde es bei diesen Tendenzen bleiben, wäre ein ernster Konflikt zwischen gegebenen konstitutionellen Formen der Demokratie und einem wachsenden Teil der Bevölkerung vorgezeichnet.
  8. Fragt man sich, woher denn diese wachsende Entfremdung komme, dann gibt es mindestens zwei Faktoren, die sich abzeichnen: (i) Die reale Kommunikation zwischen Bevölkerung und etablierten Parteien und Parlamenten ist real schwach, gestört, und wird aktuell eher schwächer; (ii) Die inhaltlichen Anschauungen der verschiedenen Gruppen divergieren vielfach sehr stark. Dies wird durch die Aufsplitterung der Öffentlichkeit in immer mehr Teilöffentlichkeiten mit jeweils immer weniger innerer Pluralität begünstigt. Es entstehen kognitive Weltbilder weitgehend unabhängig voneinander. Da diese Weltbilder für jede Gruppe eine gruppenspezifische Handlungsbasis bieten, stehen sich zunehmend Weltbilder als Alltagsvorstellungen gegenüber, die immer weniger kompatibel sind; zusätzlich scheinen die ‚Inhaber dieser spezifischen Weltbilder‘ immer weniger fähig und willens zu sein, ihre eigenen Weltbilder irgendwie in Frage zu stellen. Das Ergebnis sind Verteufelungen der anderen, eine immer stärkere Bereitschaft zu Gewaltaktionen, weil man die Fähigkeit verloren hat, über Weltbilder zu reden, so dass man diese im gemeinsamen Diskurs unterschiedlich beleuchtet, anders bewertet, und möglicherweise modifiziert.
  9. Die Erstarrung im Umgang mit kognitiven Bildern der Welt ist eine Form von ‚Systemstörung‘: es ist eine grundlegenden Eigenschaft von biologischen Systemen auf der Erde, dass sie mehr als 3 Mrd.Jahre auf diesem Planeten nur überlebt haben, weil sie extrem anpassungsfähig waren, wandlungsfähig, grundlegend lernfähig. Besonders der homo sapiens verfügt über sehr außerordentliche Fähigkeiten, zu lernen und sich durch Kommunikation mit anderen zu koordinieren. Jedoch gehört es zur Eigenheit hochentwickelter lernender Systeme, dass sie nicht deterministisch sind: sie können, aber sie müssen nicht. Das ist ihr Geheimnis. Wenn sie sich aber ihrem realen Lernen grundsätzlich verweigern durch starres Festhalten an nur wenigen Aspekten ihrer dynamischen Umwelt, dann schreiben sie ihren Untergang fest. In einer dynamischen Welt kann kein statisches System auf Dauer überleben.
  10. Was in dieser Situation hilfreich wäre, das wären neue Formen einer gruppenübergreifenden Kommunikation, die nicht nur die unterschiedlichen Anschauungen sichtbar macht, sondern zusätzlich auch grundlegende Strukturen von Weltbildern.
  11. Das oksimo Paradigma wendet sich generell an Gruppen, und zwar beliebige Gruppen von Menschen (Bürgern). Jeder einzelne gilt als ein Experte; vorab wird kein Unterschied gemacht. Für die Kommunikation ist nur die eigene Sprache notwendig (Deutsch, Englisch, …). Von allen Beteiligten wird erwartet, dass sie in der Lage sind, sich zu einigen, welche Aspekte in einer bestimmten Situation sie als real gegeben annehmen. Ferner wird erwartet, dass sie in der Lage sind, jene Situation in der Zukunft zu beschreiben, die sie aktuell anstreben wollen. Und dann besteht die gemeinsame Kommunikation darin, zu beschreiben, wie man in einzelnen Schritten von der aktuellen Situation zur zukünftigen Situation kommen kann. Man kann diesen Prozess auch so sehen, dass alle zusammen eine Art Drehbuch schreiben mit einzelnen Szenen (Situationen), mit den beteiligten Akteuren und den gewählten Aktionen, die unterschiedliche viel weitere Ressourcen benötigen (Zeit, Geld, Material, Wechselwirkung mit anderen, …). Zusätzlich bietet oksimo die Möglichkeit, das Drehbuch jederzeit auch als Simulation ablaufen zu lassen, oder gar während der Simulation eine aktive Rolle als Spieler zu übernehmen; einfach die bis dahin gegebenen Regeln anwenden oder ad hoc neue Regeln zu generieren, indem man das Drehbuch abändert. Simulation und Spielen bietet eine sehr intensive Form, sich mit den Ideen des Drehbuchs und den anderen auseinander zu setzen. Mit oksimo kann man zusätzlich auch Künstliche Intelligenz [KI] einsetzen. Diese ist aber nur insoweit interessant, als die menschlichen Akteure selbst Ziele und Konzepte haben, denen sie folgen wollen.
  12. In der Theorie könnte eine für alle verfügbare oksimo Umgebung also nicht nur grundlegend zu einer verbesserten Verständigung unter allen Bürgern beitragen (falls diese überhaupt lernen wollen!), es könnte mit der Zeit auch das Wissen um die Welt dramatisch verbessert werden, und zwar für alle, jederzeit, auch für die Politiker. Die heute vielfach zu beobachtenden ‚Sololäufe‘ jenseits einer demokratischen Öffentlichkeit wären dann weder notwendig noch langfristig möglich.

ANMERKUNGEN

[1] Homepage: Varieties of Democracies [V-Dem], https://www.v-dem.net/en/

[2] Adam Przeworski (Professor of Politics, New York University): https://en.wikipedia.org/wiki/Adam_Przeworskihttps://as.nyu.edu/content; Private Webseite: https://as.nyu.edu/content/nyu-as/as/faculty/adam-przeworski.html