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D@W : SIND DEMOKRATIEN ÜBERLEBENSFÄHIG? Ausgangslage

Letzte Änderung: 9.Dez 2024, 13:15h CET

Autor: Gerd Doeben-Henisch

Kommentare an: datw@oksimo.org

KONTEXT

Der folgende Text ist Teil des Buches ‚Demokratie@Work (kurz: D@W).

SIND DEMOKRATIEN ÜBERLEBENSFÄHIG? Ausgangslage

In einem vorausgehenden Text (‚Einleitung‘ zu D@W) wurde die Frage aufgeworfen, ob ‚Demokratien überlebensfähig‘ sind? Wenn Demokratien von vornherein keine Chance hätten, überleben zu können, wäre es wohl nicht sehr empfehlenswert, diesen Weg zu wählen.

Andererseits, nicht den Weg einer Demokratie zu wählen, also eine ‚Nicht-Demokratie‘, würde automatisch bedeuten, dass man den Weg einer ‚Autokratie‘ wählen müsste. ‚Ein bisschen Demokratie‘ geht nicht, auch wenn manche Autokratien sich gerne als ’nach außen demokratisch‘ darstellen.

WAS MUSS ÜBERLEBEN?

Bevor man die Frager diskutiert, ‚ob‘ Demokratien eine Chance haben, zu überleben, sollte man festhalten, ‚was‘ an einer Demokratie — ‚welche Elemente‘ — vorhanden sein müssten, damit man überhaupt von einer Demokratie sprechen kann?

Ein direkter Ansatz zur Charakterisierung der ‚Grundelemente einer Demokratie‘ ist die Bezugnahme auf ein ‚autokratisches System‘, welches im Kern eine sehr einfache Struktur besitzt. In dem Maße, wie sich bei der ‚Beschreibung‘ eines konkreten gesellschaftlichen Systems die Eigenschaften einer ‚Autokratie‘ aufzeigen lassen, in dem Maße liegt ‚keine Demokratie‘ vor sondern eben eine ‚Autokratie‘.

Keine Kontrolle der Macht durch das Volk

Das zentrale Kennzeichen einer Autokratie liegt im Fehlen einer effektiven ‚Kontrolle der Macht‘ durch freie Wahlen, bei denen sich jeder Bürger ab einem bestimmten Mindestalter beteiligen kann. Dazu gehört, dass nach den ‚freien und öffentlichen Wahlen‘ diejenigen, die eine ‚Mehrheit‘ errungen haben, für eine ‚definierte Zeit‘ die ‚Macht ausüben‘ dürfen.

Bei einer Gesellschaft, in der einige wenige die Macht ohne jegliche Kontrolle ausüben können, kann man nicht von einer ‚Demokratie‘ sprechen. Es gibt im Jahr 2024 viele Autokratien, in denen formal ‚Wahlen‘ stattfinden, aber diese Wahlen sind so angelegt, dass die ‚Akteure der unkontrollierten Macht‘ durch diese Wahlen nicht real gefährdet sind. Es gibt im Jahr 2024 aber auch Gesellschaften, die sich als ‚Demokratien‘ verstehen, in denen Wahlen unter Bedingungen stattfinden, die die Möglichkeit einer freien Wahl entweder für mögliche Kandidaten oder auch für die Wähler — oder für beide — partiell einschränken.

Keine freie öffentliche Meinung

Neben den freien Wahlen benötigt es eine ‚freie öffentliche Meinungsbildung‘, durch welche die Mitglieder einer Gesellschaft sich eine ‚zutreffendes Bild der Realität‘ machen können, welche sie als Gesellschaft ‚zum Wohle aller‘ täglich gestalten wollen. Dieses öffentlich verfügbare Meinungsbild bildet auch die Grundlagen für eine ‚Wahlentscheidung‘ im Fall einer Wahl. Ist solch eine freie öffentliche Meinung für ‚alle‘ (!) Bürger nicht umsetzbar, dann ist eine ‚Kontrolle der Macht‘ im Ansatz nicht möglich.

Kennzeichen für alle Autokratien (im Jahr 2024 z.B. u.a. der Iran, Russland und China) ist eine unfassbare Angst vor jedem Ereignis einer öffentlichen Meinungsbildung. Die Maßnahmen der Unterdrückung sind entsprechend rigoros: Verbote, reale Unterdrückung, willkürliche Verhaftungen, willkürliche Gerichtsverfahren, Gefängnis, Folter, Tötungen. Rein formal gibt es oft sogar schriftliche Regelungen, Vorschriften oder gar Gesetze, aber diese schriftlichen Regelungen wurden von einer Macht veranlasst, die selbst unkontrolliert ist,und die Regelungen sind auch so gestaltet, dass ihre Interpretation jeglichen Spielraum lässt.

Im Falle von Demokratien gibt es seit wenigen Jahren ein Phänomen, das zunehmend auch eine freie öffentliche Meinung für alle zerstören kann oder sogar schon aktiv zerstört: unter Ausnutzung der ‚rechtlich gewährten freien Meinungsäußerungen‘ und in Verbindung mit dem heute fast überall verfügbaren Internet konnte sich der ‚Raum der öffentlichen Meinung‘ in viele ‚Teilräume aufteilen‘, in denen unterschiedliche ‚Bilder von der Welt‘ kommuniziert werden können. Wenn nun diese kommunizierten Bilder von der Welt ‚teilweise oder überwiegend nicht zutreffen‘ (was nachweisbar der Fall ist), dann zerfällt die öffentliche Meinung in viele getrennte Bilder von der Welt, die teilweise oder überwiegend falsch sind. Damit wird eine ‚kritische Sicht der Gegenwart‘ deutlich getrübt und bei Wahlen können Kandidaten gewählt werden, die diese ‚unzutreffenden Bilder von der Welt‘ aktiv vertreten. Dadurch können die Grundregeln einer demokratischen Gesellschaft mindestens geschwächt, wenn nicht dann sogar aufgehoben werden.

Falsche öffentliche Ordnung

Jede Gesellschaft benötigt für ihr tägliches Zusammenleben eine minimale Ordnung, die durch Einrichtungen wie z.B. ‚Anwälte‘, ‚Polizei‘ und ‚Gerichte‘ moderiert wird.

In einer Autokratie gibt es diese Einrichtungen auch, und es gibt hier sogar auch ansatzweise Vorschriften, welche diese ‚Institutionen für die Erhaltung der öffentlichen Ordnung‘ einhalten sollen. Wenn aber diese Vorschriften von einer unkontrollierten Macht verordnet werden, gibt es für Willkür keine natürlichen Grenzen. Umso mehr, wenn es keine funktionierende öffentliche Meinung gibt. Die Praxis der heute existierenden Autokratien spricht hier eine deutliche Sprache.

Falsche Sprache

Auch wenn die realen Taten einer Autokratie ihre eigene klare Botschaft enthalten, versuchen Autokratien dennoch beständig, durch ‚geeignete sprachliche Formulierungen‘ den Eindruck zu erwecke, dass das, was sie täglich tun, alles ‚richtig‘ sei.

Im Zuge der Zeit, wo das Internet alle erreicht (zumindest dort, wo es keine ‚Sperren‘ gibt, wie sie Autokratien eingerichtet haben) und wo bestehende Demokratien eine nahezu unbeschränkte ‚Freiheit der Meinungsäußerungen‘ gewähren, fluten Autokratien diese
öffentlichen Räume‘ mit ihren ‚Texten der Pseudo-Wahrheiten‘, um auf diese Weise über die ‚Köpfe der Bürger‘ den inneren Zusammenhalt demokratischer Gesellschaft zu schwächen oder gar zu zerstören.

Während also Autokratien ihre ‚öffentliche Räume‘ aufs schärfste kontrollieren und mit martialischen Mitteln jede Abweichung ahnden, lassen bestehende Demokratien es bislang zu, dass ihre eigenen Bürger über die freien öffentlichen Räume‘ quasi ‚in Gedanken umprogrammiert‘ werden.

Zusammenfassend:

Dies kurze Skizze liefert folgenden Ansatzpunkte, die als ‚minimale Ankerpunkte‘ einer Demokratie gewahrt sein sollten, damit wir minimal von einer ‚Demokratie‘ reden können:

  1. ‚Macht‘ darf nur von solchen Menschen ‚ausgeübt‘ werden können, die durch ‚öffentliche freie Wahlen‘ für einen ‚vereinbarten endlichen Zeitraum‘ gewählt wurden.
  2. Für die ‚Ausübung der Macht‘ gibt es ‚Master-Regeln‘ (oft ‚Grundgesetz‘ oder ‚Verfassung‘ genannt), die von einer deutlichen Mehrheit der Bürger vereinbart worden sind. Sie können auch nur nach festen Regeln wieder ‚geändert‘ werden.
  3. Es gibt einen ‚öffentlichen Informationsraum‘, der ‚jedem Bürger unentgeltlich‘ von der Gesellschaft zur Verfügung gestellt wird, der es möglich macht, dass eine Gesellschaft sich eine ‚freie Meinung‘ über jene Welt bilden kann, in der diese Gesellschaft ‚überleben muss‘. Es gibt eine ‚Qualitätssicherung‘, die darauf achten muss, klar ‚unzutreffende Bilder von der Welt‘ kenntlich zu machen.

DIE ZENTRALE ROLLE EINES ZUTREFFENDEN BILDES VON DER WELT

Im vorausgehenden Text wurden mit Bezug auf Autokratien minimale Kriterien formuliert, welche eine Gesellschaft erfüllen sollte, die sich ‚Demokratie‘ nennen will.

Schon bei dieser kurzen Skizze wurde deutlich, dass die Frage des ‚zutreffenden Bildes jener Welt, in der man lebt‘ bzw. auch ‚überleben will‘ eine zentraler Bedeutung bekommt. Ohne Verfügbarkeit eines ‚zutreffenden Bildes‘ ist ein verantwortungsvolles Handeln schlicht nicht möglich, nicht für einen einzelnen Menschen, nicht für eine Gruppe und auch nicht für eine ganze Gesellschaft.

Dies führt aber direkt zur Frage, was denn ein ‚zutreffendes Bild von der Welt‘ ist?

Solange es kein gemeinsames Verständnis davon gibt, was die Formulierung ‚Zutreffen einer Meinung über die Welt‘ gibt, wird es kaum möglich sein, gemeinsam an einem ‚zutreffenden Bild von der Welt‘ zu arbeiten geschweige denn gemeinsam danach zu handeln.

Aufgrund dieser grundsätzlichen Überlegung werden im folgenden Text Überlegungen angestellt, wie ein ‚Reden über die Welt‘ beschaffen sein muss, damit das, was gesagt wird,auf die Welt auch ‚tatsächlich zutrifft‘ bzw. ‚zutreffen kann‘, falls der Zeitpunkt des Zutreffens ‚in der Zukunft‘ liegt.

ÜBER DEMOKRATIE SPRECHEN

Grundvoraussetzungen

Wenn wir die Frage nach der Überlebensfähigkeit von Demokratien beantworten wollen, müssen wir uns bewusst machen, dass es um einen ‚Kommunikationsprozess zwischen Menschen‘ geht. Dies bedeutet, was jeder einzelne ‚in seinem Kopf‘ hat, dies wird nur ’sichtbar‘ oder ‚hörbar‘, wenn die verschiedenen Einzelnen über eine ‚gemeinsame Sprache‘ verfügen, mittels der sie wechselseitig ’sichtbar (und hörbar)‘ machen können, ‚worüber‘ sie mit den anderen ’sprechen‘ wollen.

‚Miteinander Sprechen‘ läuft dann darauf hinaus, dass es einen ‚Texte‘ in der ‚gemeinsamen Sprache‘ gibt. Und dieser Text — eine Anordnung von ‚Zeichen‘ auf einem Papier — kann eine ‚Bedeutung haben‘, wenn die Teilnehmer an der sprachlichen Kommunikation in der Lage sind, beim ‚Lesen des Textes‘ — jeder für sich — ‚in ihrem Innern‘ die ‚Zeichen des Textes‘ mit ‚inneren Zuständen‘ zu verknüpfen, die für jeden Leser das ausmachen, was — meistens — ‚Bedeutung‘ genannt wird.

Diese Fähigkeit, Zeichen eines Textes mit inneren Zuständen zu verknüpfen, die wir dann als ‚Bedeutung‘ wahrnehmen, ist insoweit ‚angeboren‘, als ein Mensch — meistens — von Kindheit an in der Lage ist, zu ‚Lernen‘, ‚welche Zeichen‘ in einer bestimmten sozialen Umgebung mit welchen inneren Zuständen ‚verbunden werden‘.

Dass diese ‚individuellen Lernprozesse‘ im Verlauf dazu führen können, dass verschiedene Menschen bei der gleichen Sprache ‚das Gleiche meinen‘ können, hängt damit zusammen, dass die ‚inneren Zustände‘ eines Menschen über ‚Wahrnehmungsprozesse‘ mit der jeweils ‚aktuellen Situation‘, in der sich der ‚Körper eines Menschen‘ befindet, partiell verbunden sind. Die ‚Sinnesorgane‘ des menschlichen Körpers können — meistens — bestimmte ‚Eigenschaften‘ der aktuellen Situation über das Gehirn dem einzelnen in seiner ‚Innensicht‘ ‚als wahrgenommene Eigenschaften‘ verfügbar machen. Sofern Menschen mit ihrem Körper zur gleichen Zeit am gleichen Ort sind, können sie — das lehrt uns die Alltagserfahrung — ‚ähnliche Wahrnehmungsereignisse‘ haben. Nennt man die aktuelle Situation einschließlich des Körpers der beteiligten Situation die ‚reale Welt‘ oder einfach ‚die Realität‘, und nennt man das ‚Innere des Menschen‘, sofern es dem einzelnen Menschen ‚bewusst‘ ist, die ’subjektive Wirklichkeit‘, dann kann man die ’sinnlich induzierten Wahrnehmungsereignisse‘ als ‚Repräsentationen‘ von bestimmten Eigenschaften der realen Welt in der subjektiv Welt des einzelnen Menschen auffassen.

Aus der Alltagserfahrung wissen wir ferner, dass verschiedene Menschen sich — meistens — mit der gleichen Sprache in der gleichen Situation bei Bezugnahme auf bestimmte Aspekte der realen (Außen-)Welt weitgehend darüber einigen können, ‚mit welchen Zeichenkombinationen‘ sie das beschreiben, was sie in der aktuellen Situation ‚individuell wahrnehmen‘. Es können also ‚Texte‘ entstehen, bei denen die beteiligten Menschen zu der Feststellung kommen können, dass dieser Text bestimmte Eigenschaften der aktuellen Situation ‚zutreffend beschreibt‘ oder eben nicht. Ein Text, der als ‚zutreffend‘ aufgefasst wird, wird auch als ‚wahr‘ im Sinne des Zutreffens verstanden, ansonsten als ’nicht zutreffend‘ oder ‚falsch‘. Es kann auch Teile des Textes geben, die als ‚unbestimmt‘ empfunden werden; es ist dann nicht klar, worauf sich der Text beziehen soll. Er ist dann ‚weder wahr noch falsch‘.

Dieser kurze Text beschreibt die ‚Grundvoraussetzungen‘, ohne die es überhaupt keine Kommunikation gibt. Und, wie man ansatzweise fühlen kann, sind schon diese Grundvoraussetzungen nicht gerade ‚einfach‘ zu verstehen. Für die Klärung der Hauptfrage, ob Demokratien überlebensfähig sind, reichen diese Grundvoraussetzungen allerdings noch nicht aus. Weitere Aspekte müssen noch geklärt werden.

AKTUELL und PUNKTUELL

Im Rahmen der Grundvoraussetzungen können wir davon ausgehen, dass wir einen ‚konkreten Körper‘ haben. Mit diesem Körper befinden wir uns immer auch an einem ‚konkreten Ort‘ mit einer dazu gehörigen ‚konkreten Situation‘. Dies alles findet außerdem — falls man mittels einer Uhr ‚Zeit‘ ‚erzeugen‘ und damit ‚messen‘ kann — zu einem ‚konkreten Zeitpunkt‘ statt.

Zu jedem konkreten Zeitpunkt können wir nur ganz wenige ‚konkrete Dinge in unserem Kopf‘ zugleich ‚denken‘: z.B. nur einige wenige ‚aktuelle Wahrnehmungen‘, nur einige wenige ‚aktuelle Emotionen‘, nur einige wenige ‚aktuelle Vorstellungen/ Gedanken‘ und nur einige wenige ‚aktuelle Ziele‘. Wenn ich gerade vor mir eine bestimmte Straße sehe, dann kann ich nicht gleichzeitig eine andere Straße sehen; ein bestimmtes Schaufenster, nicht zugleich viele andere; eine bestimmte Buchseite und nicht zugleich andere Buchseiten; einen aktuellen Gedanken bewusst denken und nicht zugleich viele andere Gedanken bewusst denken, usw. (Der Zusatz ‚bewusst‘ ist hier notwendig, da das eigene Gehirn im ‚unbewussten Bereich‘ tatsächlich gleichzeitig viel mehr als nur einen Gedanken verarbeiten kann).

Man darf von daher schon sagen, dass wir in unserem konkreten Alltag mit unserem Körper zu einem bestimmten Zeitpunkt durchgehend ‚punktuell konkret Wahrnehmen, Fühlen und Denken‚.

Dass wir dies überhaupt können, ist schon für sich großartig, in einem größeren zeitlichen Zusammenhang würde diese ‚Fixierung auf den Augenblick‘ einen konkreten Körper aber lebensunfähig machen. Ein Körper mit solch einer Fixierung auf einen Augenblick würde der berühmten Mücke gleichen, die direkt zum hellen Licht fliegt und dort verbrennt, weil sie außer dem aktuellen Licht nichts anderes Wahrnehmen, Fühlen und Denken kann.

Was also brauchen wir noch an ‚Zutaten‘, um verstehen zu können, wie wir die Hauptfrage beantworten können?

VERALLGEMEINERUNGEN

Nun wissen wir aus unserem Alltag — meistens –, dass wir ja nicht nur einen ‚einzigen Augenblick‘ leben, sondern ‚viele einzelne Augenblicke‘. Dies können wir nur bemerken, weil wir — meistens — über eine ‚minimale Erinnerung‘ verfügen, wodurch wir ‚vorausgehende Augenblicke‘ ‚partiell erinnern‘ können. Unter Voraussetzung dieser Erinnerungsfähigkeit können wir feststellen, dass sich eine konkrete Situation ‚verändern‘ kann, und sei es nur, weil wir die Position unseres eigenen Körpers verändern oder dass wir ‚Teile unseres Körpers‘ (Kopf, Arme, Hände, Beine…) durch eine ‚Bewegung‘ so verändern, dass sich die Position unseres Körpers relativ zur aktuellen Situation verändert (Oder, weil wir eine ‚Uhr‘ besitzen, die für uns ‚regelmäßige Zeitmarken‘ erzeugt, durch die wir ’sich verändernde Zeitpunkte‘ als ‚Referenz‘ benutzen können). Als Folge solcher Veränderungen verändert sich unsere ‚Wahrnehmung‘ sowohl der umgebenden Situation‘ wie auch die ‚Innenwahrnehmung unseres Körpers‘ (wir können — meistens — die Bewegung eines Körperteils im Innern ’spüren‘ (weil sich in unserem Körper genügend viele biologische Sensoren befinden, die die Veränderung von Muskeln und Knochenstellungen ‚intern wahrnehmen‘ können, diese zu unserem Gehirn ‚melden‘, und dieses ‚übersetzt‘ diese Meldungen in entsprechende ‚Körperwahrnehmungen‘))

Diese grundlegende Fähigkeit, mehr als einen aktuellen Augenblick sowohl direkt erleben zu können, wie auch über den Umweg der Erinnerung in eine Art ‚Abfolge von Ereignissen‘ einordnen zu können, ermöglicht es uns, einzelne Situationen mit all ihren unterschiedlichen einzelnen Eigenschaften nicht nur ’nebeneinander‘ zu stellen, sondern auch ‚relativ dazu‘ ‚allgemeine Vorstellungen‘ zu bilden (weil unser Gehirn so gebaut ist, dass es uns diese Leistung verfügbar machen kann). Wenn ein Kind einen kleinen Hund sieht, im nächsten Moment einen anderen Hund, aber größer, und dann wieder einen anderen mit einer anderen Gestalt, dann kann das Kind ‚für sich‘, ‚in seinem Kopf‘ eine ‚Vorstellung von etwas‘ entwickeln, das andere Menschen ‚Hund‘ nennen, und dieses ‚Wort Hund‘ verbindet es mit drei verschiedenen ‚Wahrnehmungen‘, die ‚in der Erinnerung des Kindes verfügbar‘ sind. Diese drei verschiedenen Wahrnehmungen haben ‚etwas gemeinsam‘: vier Beine, einen Schwanz, einen Kopf mit Augen, Ohren, Maul und … ein ‚Briefkasten‘ sieht anders aus.

Dieser Mechanismus des ‚Zusammenfassens von verschiedenem Einzelnem‘ zu etwas ‚Allgemeinerem‘ (oft ‚Abstraktion‘ genannt) funktioniert nicht nur mit konkreten Wahrnehmungen, sondern man kann diesen ‚Mechanismus des Verallgemeinerns‘ ‚immer wieder‘ anwenden. Wenn man erst einmal gelernt hat, dass es ‚Hunde‘ gibt, ‚Vögel‘, ‚Katzen‘ usw., dann kann man dies weiter verallgemeinern zu ‚Haustieren‘, ‚Wildtieren‘ usw. und diese kann man weiter zusammenfassen zu ‚Tiere‘, zu ‚Lebewesen‘ … es gibt hier keine absolute Schranke.

Man spürt aber vielleicht, dass dieser Mechanismus des ‚Verallgemeinerns‘, des ‚Abstrahierens‘, sich auch in einer Weise verselbständigen kann, dass man irgendwann nicht mehr unbedingt weiß, ob sich ein Wort wie ‚Zentaurus‘, ‚Kaiser‘, ‚Elektron‘, ‚Liebe‘, ‚Migrant‘, ‚Wachstum‘ oder auch ‚Demokratie‘ tatsächlich noch auf etwas ‚Konkretes‘ zurück führen lässt. Der ‚Kreativität‘, der ‚Fantasie‘ der Menschen sind keine festen Grenzen gesetzt. Die Vielzahl an Märchen, Fabeln und die berühmten ‚Falsch-Erzählungen‘ zum Zwecke der ‚Manipulation‘ beweisen dies sehr deutlich.

‚Verallgemeinern‘ ist eine wichtige und große Kraft unseres ‚Denkens‘, sie kann sich aber auch ‚verselbständigen‘ und damit mehr und mehr den Kontakt zur konkreten Welt verlieren. Man könnte auch sagen, dass ‚unseriöse Verallgemeinerungen‘ etwas vorzugaukeln versuchen, was es real gar nicht gibt, was aber dennoch nicht selten das Denken von Menschen beeinflussen kann.

Wenn man jetzt schon ahnt, wie wir durch unsre sprachliche Kommunikation Augenblicke überwinden können, Abstraktionen vornehmen kann, so gilt aber auch hier: dies ist noch nicht alles, was wir brauchen!

BEZIEHUNGEN FESTSTELLEN

Neben der Fähigkeit, verschiedene einzelne Eigenschaften in einem einzigen Begriff zusammen zu fassen, verfügen wir auch über die Fähigkeit, ‚zwischen‘ verschiedenen Eigenschaften ‚Beziehungen‘ zu denken. Vertraut sind den meisten ‚räumliche Beziehungen‘ zwischen unterscheidbaren Objekten und Körpern in einer Situation. Wir sind in der Lage festzustellen, ob sich ein Objekt z.B. ‚vor‘, ’neben‘, ‚hinter‘, ‚über‘ oder ‚unter‘ einem anderen Objekt befindet. Wir können auch unterscheiden, ob ein Objekt räumlich ’nah‘ oder ‚entfernt‘ ist, ‚groß‘ oder ‚klein‘, ‚dick‘ oder ‚dünn‘, usw. Diese ‚Beziehungen‘ sind selbst ‚keine direkten Objekte‘, wir können sie aber als ‚Beziehungen in unserem Denken‘ sichtbar machen. Anders formuliert: Wenn wir zwei verschiedene Objekte in einem Raum ‚bewusst‘ wahrnehmen oder denken können, dann verfügen wir in unserer subjektiven Wirklichkeit über die Fähigkeit zwischen diesen bewussten Wahrnehmungen oder bewussten Denkinhalten ‚Beziehungen‘ als etwas ‚Gegebenes‘ wahrnehmen bzw. denken zu können. Bei ‚realen‘ Wahrnehmungen und Denken über reale Objekte hängen diese Beziehungen vom Vorhandensein der realen Objekte ab. Aber beim ‚Erinnern‘ von zuvor wahrgenommenen Objekten oder beim ‚Denken‘ von erinnerbaren Objekten können wir Beziehungen denken, obgleich keine realen Objekte in der Wahrnehmung vorliegen.

Auch hier können wir sehen, wie das ‚Denken von Beziehungen‘ sich von dem Vorhandensein von realen Objekten sobald lösen kann, wie wir mit Erinnerungen und Denken arbeiten. ‚Erinnertes‘ kann im Denken ‚verändert‘ werden und die dadurch entstandenen ’neuen Objekte‘ können wiederum in ‚Beziehungen‘ gedacht werden, die jetzt nur zwischen ‚gedachten Objekten‘ bestehen.

Wie schon im Fall des ‚Verallgemeinerns‘ kann uns dies entweder helfen, die reale Welt mit uns als Teil davon etwas besser zu verstehen, indem wir allgemeinere Strukturen und Zusammenhänge erfassen können, es kann aber auch schnell dazu führen, dass wir Beziehungen denken, die es so gar nicht gibt. Der Weg zum ‚Trügerischen‘, ‚Falschem‘ ist da nicht weit.

Ein anderer Fall von ‚Beziehungen aktivieren‘ ist das Zuordnen von Eigenschaften‘. Wenn ich eine Pflanze sehe und jemand sagt, dass ‚diese Pflanze giftig sei‘, dann wird eine explizite Beziehung zwischen der Pflanze und der Eigenschaft ‚ist giftig‘ hergestellt. Dies kann hilfreich sein, wenn ‚es stimmt‘, oder auch nicht, wenn es ‚falsch‘ ist. Wenn jemand von einer Gruppe von Menschen sagt, dies seien ‚Betrüger, Schmarotzer oder Ähnliches‘, dann kann dies zu sozialer Ausgrenzung und mehr führen. Wie kann man feststellen, ob diese behauptete Beziehung richtig oder falsch ist? Was soll man davon halten, wenn jemand behauptet, ‚die Wirtschaft hat kein Wachstum‘?

Was am Beispiel von ‚Zusprechen von Beziehungen‘ deutlich wird: Das ‚Zutreffen‘ (‚wahr‘ sein) oder ‚Nicht-Zutreffen‘ (‚falsch‘ sein) von solchen behaupteten Beziehungen lässt sich nicht mehr ‚einfach so‘ erkennen. Man muss in der Tat einiges ‚wissen‘, um ‚Wahr‘ ‚Falsch‘ hier einschätzen zu können. Wer sich z.B. mit ‚Pilzen‘ nicht auskennt, wird selbst wenig zur Aussage beitragen können.

URSACHEN ANNEHMEN

Ein anderer Fall von Beziehungen liegt vor, wenn jemand feststellt, dass zwischen einem ‚aktuellen Ereignis‘ und einem ‚erinnerten Ereignis‘ eine Beziehung derart besteht, dass das erinnerte (vorausgehende) Ereignis die ‚Ursache‘ dafür ist, dass das nachfolgende Ereignis eingetreten ist. Wenn jemand beim Autofahren plötzlich einschläft und darauf hin sein Auto einen Unfall verursacht, wird — meistens — angenommen, dass das Einschlafen die Ursache für den nachfolgenden Unfall war. Natürlich kann man dann auch weiter fragen, was zum ‚Einschlafen‘ geführt hat. Aber erst mal werden — meistens — die Menschen zufrieden sein mit der Beschreibung, dass das ‚Einschlafen zum nachfolgenden Unfall geführt hat‘. Andere einfache Beispiel sind der Regen, der die Straße und die Wiese nass macht; die Kälte, die alles gefrieren lässt; der Lichtschalter, der das Licht einschaltet, usw.

Dies sind einfache ‚Ursache-Wirkung‘ Beziehungen. Schwieriger wird es, wenn sich eine Ursache erst ’nach einer längeren Zeitspanne‘ auswirkt. Wenn der Beton einer Brücke durch innere Erosionsprozesse langsam brüchig wird, dann kann es ein paar Jahre dauern, bis die Brücke einstürzt. Wenn die Infrastruktur in der Kanalisation nicht genügend gewartet wird, dann kann es auch Jahre dauern, bis Fehler sichtbar werden, entsprechend mit den Verkehrsmitteln, oder auch bei uns Menschen selbst: wer sich über Jahre ungünstig ernährt, kann alleine von der falschen Ernährung erhebliche gesundheitliche Schäden nehmen, die, wenn sie dann sichtbar werden, oft kaum noch einfach behoben werden können. Unser Alltag ist voll von Ursache-Wirkung Beziehungen, die lange ‚verdeckt‘ wirksam sind, wenn wir nicht darauf achten.

Auch bei diesen ‚Ursachen-Beziehungen‘ spielt das ‚Wissen‘ eine große Rolle. Wer nichts über Erosionsprozesse im Beton weiß oder nichts über ‚gesunde Ernährung‘, der wird mit den entsprechenden ‚Wirkungen‘ immer überrascht werden und sich wundern, warum eine Brücke einstürzt oder eine schwere gesundheitliche Störung auftritt.

VORAUSSAGEN MACHEN

Mit dem bisher Gesagten können wir zwar ansatzweise verstehen, warum Menschen sich überhaupt sprachlich verständigen und sich über ‚wahre/ falsche/ unklare Aussagen‘ einigen können. Ferner leuchtet etwas von der ‚inneren Struktur‘ unseres subjektiven Wissens von der Welt auf insofern wir Gegenwart und Vergangenheit unterscheiden und in der Lage sind, im Vergleich von gegenwärtigen und vergangenen Situation Veränderungen erfassen können, dazu Beziehungen zwischen Objekten und Eigenschaften, auch mögliche Ursachen mit unterstellten Wirkungen. Noch nicht klar ist allerdings die Frage, ob wir auf der Basis von Gegenwart und Vergangenheit irgendetwas über eine ‚mögliche Zukunft‘ oder gar über ‚viele mögliche Zukünfte‘ sagen können? Und, falls wir solche sprachlichen Beschreibungen über mögliche Zukünfte liefern, wie ‚zuverlässig‘ solche Beschreibungen sind: handelt es sich um reine ‚Fantasie‘ oder sind diese Aussagen auf eine Weise ‚begründet‘, so dass ihr eine ‚Wahrscheinlichkeit jenseits des puren Zufalls‘ zugesprochen werden kann?

Für die Beantwortung der Frage nach der ‚Überlebensfähigkeit‘ einer Demokratie wäre diese zusätzliche Eigenschaft einer ‚Voraussage‘ über eine mögliche Zukunft deutlich über den puren Zufall hinweg eine wesentliche Voraussetzung. Falls wir solche Art von Voraussagen nicht machen können, sind wir faktisch ‚blind für Zukunft‘.

Bisher haben wir nur einen Fall von Beziehungen unterschieden, die sich über mehrere Zeitpunkte erstrecken können: die ‚Ursache – Wirkung Beziehung‘. Es gibt allerdings auch noch den Fall, dass wir ‚Regelmäßigkeiten‘ in der uns umgebenden Welt beobachten ohne dass wir schon ein Ursache-Wirkung Schema identifizieren konnten : Erscheinen und Verschwinden von Mond und Sonne; das Auftreten von Jahreszeiten im jährlichen Rhythmus; das Wachsen von Pflanzen bei bestimmten Bedingungen; Ebbe und Flut; usw. Natürlich kann man alle beobachtbaren Regelmäßigkeiten daraufhin hinterfragen, ob sich hier nicht ein ‚Ursache-Wirkung Schema‘ andeutet. Die moderne Wissenschaft war in diesem Aufdecken von zunächst verborgenen Ursache-Wirkung Zusammenhängen bislang sehr erfolgreich. Das Erkennen eines Ursache-Wirkung Schemas setzt aber voraus, dass man zuvor überhaupt bemerkt hat, dass es ‚regelmäßige Ereignisse‘ gibt, die als Kandidaten für das Feststellen eines dazu gehörigen Ursache-Wirkung Schemas dienen können.

Die Mindestanforderung für die Erstellung einer Voraussage besteht darin, dass wir über die Beschreibung einer als ‚zutreffend erkannten Ausgangslage‘ verfügen und über die Beschreibung von mindestens einer ‚beobachteten Veränderung‘, die eine gegebene Situation so abändern kann, dass eine ’neue Situation‘ entsteht. Dazu gehört auch das Wissen, wie eine ‚beschriebene Veränderung‘ so ‚angewendet‘ werden kann, dass es durch die Anwendung zu einer veränderten ’neuen Situation‘ kommen kann. Falls die beschriebene Veränderung mehrmals angewendet werden kann (z.B. der Schlag eines Hammers auf ein Stück glühendes Metall), dann kann bei jeder Anwendung ein ‚Stück Veränderung passieren‘.

Damit — stark vereinfacht — wurden minimale Voraussetzungen zusammen gestellt, die notwendig erscheinen, etwas über eine möglich Zukunft — z.B. auch für eine Demokratie — zu sagen, das den Ausgangspunkt für eine Diskussion bilden kann, ob eine Demokratie überleben kann oder nicht.

BEDÜRFNISSE UND EMOTIONEN

Was in diesem Rahmen noch fehlt, das ist der Hinweis auf die ’natürlichen Bedürfnisse‘, die unser Körper fest einprogrammiert hat, und eine große Zahl unterschiedlicher ‚Emotionen‘, die sich situationsbezogen bemerkbar machen können. Bei Emotionen gibt es den schwierigen Fall, dass diese sich zwar im Bewusstsein bemerkbar machen können, dass es aber auch den Fall gibt (nicht selten), dass eine Emotion zwar im ‚Unbewussten‘ aktiv ist, dies aber im ‚Bewussten‘ kaum bis gar nicht direkt wahrnehmbar ist, allerdings indirekt.

Mit Blick auf die Frage, ob Demokratien überleben können, spielen Bedürfnisse und Emotionen eine zentrale Rolle, da diese so stark sein können, dass sie alle anderen Überlegungen oder Entscheidungen mindestens beeinflussen, wenn nicht gar blockieren können. Aber, selbst wenn die Grundbedürfnisse befriedigt sind, so können Menschen starke Emotionen haben, die sie darin blockieren, bestimmte Anschauungen oder Verhaltensweisen zu übernehmen, selbst wenn sie vielleicht für sie wichtig sein können; umgekehrt kann dies dazu führen, dass sie ganz bestimmte Anschauungen und Verhaltensweisen stark favorisieren, auch wenn diese für sie schädlich sein können.

KOMPLEXE SYSTEME

Der vorausgehende Überblick über grundlegende Faktoren, welche das Zutreffen einer Beschreibung (letztlich ein ‚Bild‘ von) der realen Welt mitbestimmen, beschreibt als Ausgangspunkte für mögliche Voraussagen (‚Prognosen‘) die ‚einfachen‘ Fälle: ‚Beobachtbare regelmäßige Muster‘ oder erkannte ‚Ursache – Wirkung‘ Muster im Bereich der Alltagserfahrung.

Die reale Welt, in der wir leben — einschließlich unserer eigenen Körper — besteht aber aus einer unfassbar großen Zahl von ‚Sachverhalten‘, die die Wissenschaft und das Engineering gerne als ‚komplexe Systeme‘ bezeichnen. Mit einem ‚komplexen System‘ ist hier ein Sachverhalt gemeint, der im Zusammenhang von Ereignissen, die sich in der Zeit folgen, als eine ‚mögliche Ursache‘ aufgefasst werden kann, die nachfolgende Ereignisse ‚bewirkt‘. Das Besondere bei komplexen Systemen ist aber, dass sie unterschiedlich ‚reagieren‘ können. Je nach der Art von ‚vorausgehenden‘ Ereignissen können sie mit unterschiedlichen Häufigkeiten unterschiedliche Wirkungen auslösen.[1] Im Fall des Menschen z.B. sind wir im Alltag bei uns bekannten Personen damit ‚vertraut‘, was diese Person in bestimmten Situationen ‚gewöhnlich‘ tut. Es gibt aber auch Fälle, in denen diese Person dies manchmal auch nicht tut. Bei diesen Voraussetzungen Prognosen über das Verhalten dieser Person zu einem Zeitpunkt in der Zukunft aufzustellen, ist schwierig, aber nicht unmöglich.

Alle (biologischen) Lebewesen auf diesem Planeten repräsentieren letztlich ‚komplexe Systeme‘, was das Zusammenspiel von vielen Lebewesen als ‚Population‘ oder als ‚Lebensraum‘ mit vielen verschiedenen Populationen gleichzeitig beliebig schwierig machen kann.

Dennoch stellen wir fest, dass die Meisten dieser vielen verschiedenen komplexen Lebewesen über längere Zeiträume ‚gelernt‘ haben, sich auf eine komplexe Umgebung in einer Weise einzustellen, dass ein ’stabiles Ökosystem‘ entsteht, das allen Beteiligten eine funktionierende Lebenschance bietet. Diese komplexen Ökosysteme erwecken den Eindruck, dass sie ‚überlebensfähig‘ (oft auch ‚resilient‘ genannt) sind.

Es könnte also mit Blick auf die Menschen als Teil des Lebens auf diesem Planeten eine wichtige Frage sein, wie diese beeindruckende Breite an Formen der Überlebensfähigkeit aller bekannten Lebewesen letztlich funktioniert. Verschärft könnte man auch fragen, wie könnte die Überlebensfähigkeit von Lebewesen sogar ’noch besser‘ funktionieren als bisher? Was würde ‚besser‘ dann auch heißen?

[1] Eine gute Einführung in die Thematik komplexer Systeme bietet Donella H.Meadows (Herausgegeben von Diana Wright), Thinking in Systems. A primer, Chelsea Green Publishing, White River Junction in Vermont, USA, 2008, Copyright by Sustainability Institute. Das Thema ist allerdings noch umfassender, als in diesem Buch beschrieben.

ANFANGEN: Sprache und Strukturen – Die Fiktion eines ‚Seins‘

Autor: Gerd Doeben-Henisch (gerd@oksimo.org)

(Letzte Änderung: 6.November 2022 – 27.Februar 2023, 03:40h)

Email: gerd@oksimo.org

KONTEXT

Dieser Text ist Teil des Buchprojektes „oksimo.R – Editor und Simulator für Theorien“. Man kann diesen Text lesen als Fortsetzung des Textes ‚Die Innenseite der Außenseite. Teil 2‘.

‚Transiente‘ Ereignisse und Sprache

Nachdem wir uns in der biologischen Zell-Galaxie ‚Mensch‘ soweit vorgearbeitet haben, dass wir ihre ‚Strukturiertheit‘ feststellen können (ohne ihre Entstehung und genaues Funktionieren bislang wirklich zu verstehen), und uns selbst als Zell-Galaxie dann doch — dem Augenschein nach — als ‚konkreten Körper‘ vorfinden, der mit der ‚Umgebung des eigenen Körpers‘ (oft auch ‚Außenwelt‘ genannt) zweifach ‚kommunizieren‘ kann: Wir können auf verschiedene Weise ‚Wahrnehmen‘ und wir können auf verschiedene Weise ‚Wirkungen‘ in er Außenwelt hervorbringen.

Für die ‚Koordinierung‘ mit anderen menschlichen Körpern, insbesondere zwischen den ‚Gehirnen‘ in diesen Körpern, scheint die Fähigkeit zu ‚Sprechen-Hören‘ bzw. dann auch zu ‚Schreiben-Lesen‘ von höchster Bedeutung zu sein. Schon als Kinder finden wir uns in Umgebungen vor, in denen Sprache sich ereignet und wir ‚lernen‘ sehr schnell, dass ’sprachliche Ausdrücke‘ sich nicht nur auf ‚Gegenstände‘ und deren ‚Eigenschaften‘ beziehen können, sondern auch auf flüchtige ‚Handlungen‘ (‚Peter steht vom Tisch auf‘) und auch sonstige ‚flüchtige‘ Ereignisse (‚die Sonne geht auf‘; ‚die Ampel wurde gerade rot‘). Es gibt auch sprachliche Ausdrücke, die sich nur partiell auf etwas Wahrnehmbares beziehen wie z.B. ‚der Vater von Hans‘ (der gar nicht im Raum ist), ‚das Essen von gestern‘ (was nicht da ist), ‚ich hasse Dich‘ (‚hassen‘ ist kein Gegenstand), ‚die Summe von 3+5‘ (ohne dass es irgendetwas gibt, was wie ‚3‘ oder ‚5‘ aussieht), und vieles mehr.

Wenn man versucht, diese ‚Phänomene unseres Alltags‘ ‚mehr‘ zu verstehen, kann man auf viele spannende Sachverhalte stoßen, die u.U. mehr Fragen erzeugen als sie Antworten liefern. Alle Phänomene, die ‚Fragen‘ hervorrufen können, dienen eigentlich der ‚Befreiung unseres Denkens‘ von aktuell falschen Bildern. Dennoch sind Fragen wenig beliebt; sie beunruhigen, strengen an, …

Wie kann man diesen vielfältigen Phänomenen näher kommen?

Schauen wir uns einfach einige Ausdrücke der ’normalen Sprache‘ an, die wir in unserem ‚Alltag‘ benutzen.[1] Im Alltag gibt es vielfältige Situationen, in denen wir uns   hinsetzen (Frühstück, Büro, Restaurant, Schule, Uni, Empfangshalle, Bus, U-Bahn, …). In einigen dieser Situationen sprechen wir z.B. von ‚Stühlen‘, in anderen von ‚Sesseln‘, wieder in anderen Situationen von ‚Bänken‘, oder auch einfach von ‚Sitzgelegenheiten‘. Vor einer Veranstaltung fragt vielleicht einer „Gibt es genügend Stühle?“ oder „Haben wir genügend Sessel?“ oder … In der jeweiligen konkreten Situation können es ganz unterschiedliche Gegenstände sein, die z.B. als ‚Stuhl‘ durchgehen würden oder als ‚Sessel‘ oder … Dies deutet darauf hin dass die ‚Ausdrücke der Sprache‘ (die ‚Laute‘, die ‚geschriebenen/ gedruckten Zeichen‘) sich mit ganz unterschiedlichen Dingen verknüpfen können. Es gibt hier keine 1-zu-1 Zuordnung. Bei anderen Gegenständen wie z.B. ‚Tassen‘, ‚Gläsern‘, ‚Tischen‘, ‚Flaschen‘, ‚Tellern‘ usw. ist es nicht anders.

Diese Beispiele deuten darauf hin, dass es hier  eine ‚Struktur‘ zu geben scheint, die sich in den konkreten Beispielen zwar ‚manifestiert‘, selbst aber ‚jenseits der Ereignisse‘ verortet ist.[2]

Versucht man dies ‚gedanklich zu sortieren‘, dann deuten sich hier mindestens zwei, eher drei ‚Dimensionen‘ an, die ineinander spielen:

  1. Es gibt konkrete sprachliche Ausdrücke — jene, die wir als ‚Worte‘ bezeichnen –, die ein ‚Sprecher-Hörer‘ benutzt.
  2. Es gibt unabhängig von den sprachlichen Ausdrücken ‚irgendein Phänomen‘ im Alltag, auf das sich der ‚Sprecher-Hörer‘ mit seinem sprachlichen Ausdruck bezieht (das können ‚Gegenstände‘
    sein, ‚Eigenschaften‘ von Gegenständen, …)[3]
  3. Der jeweilige ‚Sprecher‘ bzw. ‚Hörer‘ hat ‚gelernt‘, zwischen dem ’sprachlichem Ausdruck‘ und dem ‚Anderen  zum sprachlichen Ausdruck‘ eine ‚Beziehung herzustellen‘.

Da wir wissen, dass die gleichen Gegenstände und Ereignisse im Alltag in den ‚verschiedenen Sprachen‘ ganz ‚unterschiedlich benannt‘ werden können, deutet sich an, dass die jeweils von ‚Sprecher-Hörer‘ angenommenen Beziehung nicht ‚angeboren‘ sind, sondern in jeder ‚Sprachgemeinschaft‘ eher ‚beliebig‘ erscheinen.[4] Dies deutet darauf hin, dass die im Alltag vorfindlichen ‚Beziehungen‘ zwischen sprachlichen Ausdrücken und alltäglichen Gegebenheiten von jedem Sprecher-Hörer einzeln ‚gelernt‘ werden müssen, und dies durch direkten Kontakt mit Sprecher-Hörer der jeweiligen Sprachgemeinschaft.

ABSTRAKTE STRUKTUREN

(Letzte Änderungen: 29.Januar 2023)

Körper-Externe Gegebenheiten

Transformtion reale Objekte in wahrgenommene und abstrahierte Objekte plus Bedeutungs-Beziehung
BILD 1: Transformtion reale Objekte in wahrgenommene und abstrahierte Objekte plus Bedeutungs-Beziehung

Die bisherigen Überlegungen lassen die Bildung einer ‚Arbeitshypothese‘  dahingehend zu, dass ein Sprecher-Hörer ‚außerhalb seines Körpers‘ auf einzelne Objekte treffen kann (z.B. einen Gegenstand  ‚Tasse‘, ein Wort  ‚Tasse‘), die als solche keine direkte Beziehung miteinander haben. 

Im Sprecher-Hörer können sich zu den wahrgenommenen konkreten Ereignissen dann ‚abstrakte Konzepte‘ bilden,  die aus den variierenden Vorkommnissen einen ‚gemeinsamen Kern abstrahieren‘, der dann das eigentliche ‚abstrakte Konzept‘ repräsentiert.

Unter Voraussetzung solcher abstrakter Konzepte können sich dann im  Sprecher-Hörer  ‚Bedeutungsbeziehungen‘ derart bilden, dass ein Sprecher ‚lernen‘ kann, die beiden einzelnen Objekte ‚Tasse‘  (als Gegenstand) und ‚Tasse‘ (als gehörtes/ geschriebenes Wort) ‚gedanklich zu verknüpfen‘, und zwar so, dass künftig das Wort ‚Tasse‘ eine Assoziation mit dem Gegenstand ‚Tasse‘ hervorruft und umgekehrt. Diese Bedeutungsbeziehung (Objekt ‚Tasse‘, Wort ‚Tasse‘) basiert auf ’neuronalen Prozessen‘ der Wahrnehmung und des Gedächtnisses. Sie können sich bilden, müssen aber nicht. Wenn solche neuronalen Prozesse verfügbar sind, dann kann der Sprecher-Hörer das kognitive Element ‚Objekt Tasse‘ auch dann aktualisieren, wenn es gar nicht außerhalb des Körpers als reales Objekt vorliegt;  letzteres würde  sich daran zeigen, dass kein ‚Wahrnehmungselement‘ vorliegt, das dem ‚Gedächtniselement‘ Objekt Tasse ‚entspricht‘.

Man kann diese erste Arbeitshypothese erweitern zu zwei ‚weiteren  Arbeitshypothesen‘:

(i) Arbeitshypothese: der Mechanismus der ‚abstrakten Konzeptbildung‘ funktioniert nicht nur unter Voraussetzung von konkreten Wahrnehmungsereignissen, sondern auch unter Voraussetzung von schon vorhandenen abstrakten Konzepten. Wenn ich schon abstrakte Konzepte wie ‚Tisch‘, ‚Stuhl‘, ‚Couch‘ habe, dann kann ich z.B. ein abstraktes Konzept ‚Möbel‘ bilden als ‚Oberbegriff‘ zu den drei zuvor genannten Konzepten. Nennt man abstrakte Konzepte, die sich direkt auf virtuell-konkrete Konzepte beziehen, Level 1-Konzepte, dann könnte man abstrakte Konzepte, die mindestens ein Konzept von Level n voraussetzen, Level n+1 Konzepte nennen. Wie viele Level im Bereich der abstrakten Konzepte von ‚Nutzen‘ sind, ist offen.  Generell gilt, je ‚höher der Level‘ ist, umso schwieriger wird eine Rückbindung an Level-0 Konzepte.

(ii) Arbeitshypothese: der ‚Mechanismus der Bildung von Bedeutungsbeziehungen‘ funktioniert auch mit Bezug auf beliebige abstrakte Konzepte.

Wenn Hans zu Anna sagt: „Unsere Möbel wirken mittlerweile irgendwie abgenutzt“, dann würde die interne Beziehung Möbel := { ‚Tisch‘, ‚Stuhl‘, ‚Couch‘ } vom Konzept Möbel zu den anderen untergeordneten Konzepten führen und Anna wüsste (bei gleichem Sprachverstehen), dass Hans eigentlich sagt: „Unsere Möbel in Gestalt von ‚Tisch‘, ‚Stuhl‘, ‚Couch‘   wirken mittlerweile irgendwie abgenutzt“.

Körper-Interne Gegebenheiten

Signalquellen sowohl von körper-externen Gegebenheiten wie auch von körper-internen Gegebenheiten, die dem Gehirn 'extern' sind
BILD 2: Signalquellen sowohl von körper-externen Gegebenheiten wie auch von körper-internen Gegebenheiten, die beide für das Gehirn ‚extern‘ sind.

Im BILD 1 wurde der Zusammenhang zwischen ‚körper-externen‘ Gegebenheiten und dem empfangenden ‚Gehirn‘ skizziert. Aus Sicht des Gehirns sind aber ‚körper-interne Prozesse‘ (verschiedene Körperorgane, vielfältige ‚Sensoren‘, und mehr) auch ‚extern‘ (siehe BILD 2)! Das Gehirn weiß von diesen körper-internen Gegebenheiten auch nur, insofern ihm entsprechende ‚Signale‘ übermittelt werden. Diese können aufgrund ihres ‚individuellen Eigenschaftsprofils‘ vom Gedächtnis  unterschiedlichen ‚abstrakten Konzepten‘  zugeordnet werden, und damit werden sie auch ‚Kandidaten für eine semantische Beziehung‘. Allerdings nur dann, wenn diese Abstraktionen auf körper-internen Signalereignissen beruhen, die im ‚aktuellen Gedächtnis‘ so repräsentiert werden, dass sie ‚uns‘ ‚bewusst‘ werden. [7]

Der ‚körper-interne Ereignisraum‘, der  im aktuellen Gedächtnis ‚bemerkbar‘ wird setzt sich aus sehr vielen unterschiedlichen Ereignissen zusammen. Neben ‚organ-spezifischen‘ Signalen, die sich bisweilen sogar im Körperinnern einigermaßen ‚lokalisieren‘ lassen (‚mein linker Backenzahn tut weh‘, ‚mein Hals juckt‘, ‚ich bin hungrig‘, usw. ), gibt es sehr viele ‚Stimmungen’/ ‚Gefühle’/ ‚Emotionen‘, die sich schwer bis gar nicht lokalisieren lassen, die aber dennoch ‚bewusst‘ sind, und denen man unterschiedliche ‚Intensitäten‘ zuordnen kann (‚Ich bin sehr traurig‘, ‚Das macht mich wütend‘, ‚Die Lage ist hoffnungslos‘, ‚Ich liebe dich sehr‘, ‚Ich glaube Dir nicht‘, …).

Wenn man solchen ‚körper-internen‘ Eigenschaften ‚Worte zuordnet‘, dann entsteht auch eine ‚Bedeutungsbeziehung‘, allerdings ist es zwischen zwei menschlichen Akteuren dann unterschiedlich schwer bis fast unlösbar, jeweils ‚für sich‘ zu klären, was ‚der andere‘ wohl ‚meint‘, wenn er einen bestimmten sprachlichen Ausdruck benutzt. Bei ‚lokalisierbaren‘ sprachlichen Ausdrücken kann man aufgrund eines  ähnlichen Körperbaus eventuell nachvollziehen, was gemeint ist (‚mein linker Backenzahn tut weh‘, ‚mein Hals juckt‘, ‚ich bin hungrig‘). Bei anderen, nicht-lokalisierbaren sprachlichen Ausdrücken (‚Ich bin sehr traurig‘, ‚Das macht mich wütend‘, ‚Die Lage ist hoffnungslos‘, ‚Ich liebe dich sehr‘, ‚Ich glaube Dir nicht‘, …) wird es schwierig. Oft kann man nur ‚raten‘; falsche Interpretationen sind sehr wahrscheinlich.

Spannend wird es, wenn Sprecher-Hörer in ihren sprachlichen Ausdrücken neben solchen Konzepten, die sich von körper-externen Wahrnehmungsereignissen herleiten, auch solche Konzepte benutzen, die sich  von körper-internen Wahrnehmungsereignissen herleiten. Wenn z.B. jemand sagt „Das rote Auto da drüben, da habe ich kein gutes Gefühl“ oder „Die Leute dort mit ihren Mützen machen mir Angst“ oder „Wenn ich dieses Fischbrötchen sehe, dann krieg ich richtig Appetit“ oder „Ach, diese tolle Luft“, usw.  Solche Aussagen machen wir ständig. Sie manifestieren eine durchgängige ‚Dualität unserer Welterfahrung‘: mit unsrem Körper sind wir ‚in‘ einer externen Körperwelt, die wir spezifisch wahrnehmen können, und zeitgleich erleben wir fragmentarisch das ‚Innere unseres Körpers‘, wie es in der aktuellen Situation reagiert. Man kann es auch so sehen: Unser Körper spricht mittels der ‚körper-internen Signale‘ mit uns darüber, wie er eine aktuelle ‚externe Situation‘ erlebt/ empfindet/ fühlt.

Raumstrukturen

In den Bildern 1+2 werden die Wahrnehmungen und die aktuellen Erinnerungen  ‚einzeln‘ dargestellt. Tatsächlich aber verarbeitet das Gehirn alle Signale der ‚gleichen Zeitscheibe‘ [10] so, als ob sie ‚Elemente eines drei-dimensionalen Raumes‘ wären. Dies hat zur Folge, dass zwischen den Elementen ‚räumliche Beziehungen‘ bestehen, ohne dass die Elemente selbst solche Beziehungen erzeugen können. Im Fall von körper-externen Wahrnehmungen gibt es ein klares ’neben‘, ‚vor‘, ‚unter‘ usw. Im Fall von körper-internen Wahrnehmungen bildet der Körper einen Bezugspunkt, aber der Körper als Bezugspunkt ist unterschiedlich konkret (‚Mein linker Zeh…‘, ‚Ich bin müde‘, ‚Mein Magen knurrt‘, …).

Benutzen die Sprecher-Hörer zusätzlich zu ihrer ’normalen‘ angeborenen Wahrnehmung im Fall von körper-externen Gegebenheiten ‚Messoperationen‘, dann kann man den ‚Gegebenheiten im Raum‘ verschiedene Messwerte zuordnen (Längen, Volumen, Lage in einem Koordinatensystem, usw.).

Im Fall von  ‚körper-internen‘ Gegebenheiten  kann man zwar den Körper selbst samt Prozesseigenschaften ‚messen‘ — was z.B. experimentelle Psychologen und Gehirnforscher oft tun –, aber der Zusammenhang mit den körper-internen Wahrnehmungen ist je nach Art der ‚körper-internen Wahrnehmung‘  entweder nur ‚einigermaßen‘ herstellbar (‚Mein linker Zahn schmerzt‘), oder ‚eher nicht‘ (‚Ich fühle mich heute so matt‘, ‚Gerade schoß mir dieser Gedanke durch den Kopf‘).

Zeit: Jetzt, Vorher, ‚Möglich‘

Aus dem Alltag kennen wir das Phänomen, dass wir ‚Veränderungen‘ wahrnehmen können: ‚Die Ampel geht auf rot‘, ‚Der Motor springt an‘, ‚Die Sonne geht auf‘, … Dies ist uns so selbstverständlich, dass wir kaum darüber nachdenken.

Dieses Konzept von ‚Veränderung‘ setzt ein ‚Jetzt‘ und ein ‚Vorher‘ voraus und die Fähigkeit, ‚Unterschiede‘ zwischen dem ‚Jetzt‘ und dem ‚Vorher‘ ‚erkennen zu können‘.

Als Arbeitshypothese [12] für diese Eigenschaft des Erkennens von ‚Veränderungen werden hier folgende Annahmen getroffen:

  1. Ereignisse als Teil von räumlichen Anordnungen werden als ‚Situationen‘ im ‚potentiellen Gedächtnis‘ hinterlegt, und zwar so, dass ‚aktuelle Wahrnehmungen‘, die sich von ‚hinterlegten (vorher)‘ Situationen unterscheiden, durch unbewusste Vergleichsoperationen ‚auffallen‘: wir merken, ohne es zu wollen, dass die Ampel von Orange auf Grün schaltet. Solche ‚Veränderungen‘ können wir dadurch beschreiben, dass wir den Zustand ‚vorher‘ und ‚jetzt‘ nebeneinander stellen können.
  2. In einem ‚Vergleich‘ im Kontext von ‚Veränderungen‘ benutzen wir ‚abstrakte erinnerte‘ Konzepte in Verbindung mit ‚abstrakten wahrgenommenen‘ Konzepten, z.B. der Zustand der Ampel ‚vorher‘ und ‚jetzt‘.
  3. ‚Aktuelle‘ Wahrnehmungen gehen schnell in ‚erinnerte‘ Wahrnehmungen über (Der Übergang der Ampel von Orange auf Grün ist ‚eben‘ passiert).
  4. Wir können die abstrakten Konzepte erinnerter Wahrnehmungen ‚in einer Folge/ Reihe‘ anordnen‘ derart, dass ein Element in der Reihe als ‚zeitlich‘ vorher‘ zu einem nachfolgenden Element angesehen werden kann oder ‚zeitlich nachher‘. Durch Abbildung in ’sprachliche Ausdrücke‘ kann man diese Sachverhalte ‚mehr explizit‘ machen.
  5. Durch die Verfügbarkeit von ‚zeitlichen Relationen‘ (‚x ist zeitlich  vor y‘, ‚y ist zeitlich nach x‘, ‚y ist zeitgleich mit y‘, …) gewinnt man einen Ausgangspunkt für die Betrachtung von ‚Häufigkeiten‘ in diesen Beziehungen, z.B. „Ist y zeitlich ‚immer‘ nach y“ oder nur ‚manchmal‘? Ist dieses zeitliche Muster ‚zufällig‘ oder irgendwie ’signifikant‘?
  6. Sofern die beobachteten ‚Muster zeitlichen Auftretens‘ ’nicht rein zufällig‘ sind sondern sich hierin signifikante Wahrscheinlichkeiten andeuten, dann kann man auf dieser Basis ‚Hypothesen für solche Situationen‘ formulieren, die ’nicht vergangen und nicht gegenwärtig sind‘, aber im Licht der Wahrscheinlichkeiten als ‚künftig möglich‘ erscheinen.

Zeit: faktisch und analytisch

(Letzte Änderung: 31.Januar 2023)

Die vorausgehenden Überlegungen zur Zeit gehen davon aus, dass das ‚Erkennen von Veränderungen‘ auf einer ‚automatischen Wahrnehmung‘ beruht: dass sich etwas in unserem Wahrnehmungsraum  ‚verändert‘, beruht auf ‚unbewussten neuronalen Prozessen‘, die diese Veränderung ‚automatisch erfassen‘ und ‚automatisch zur Kenntnis‘ bringen, ohne dass wir dies ‚bewusst‘ tun müssten. In allen Sprachen finden sich dazu sprachliche Ausdrücke, die dies reflektieren: ‚fahren‘, ‚wechseln‘, ‚wachsen‘, ‚fliegen‘, ’schmelzen‘, ‚erhitzen‘, ‚altern‘, … Wir können mit einer gewissen ‚Leichtigkeit‘ von Veränderungen Notiz nehmen, mehr aber auch nicht. Es ist das ‚pure Faktum‘ von Veränderung, was sich uns bemerkbar macht; daher die Formulierung ‚faktische Zeit‘.

Wenn wir ‚verstehen‘ wollen, was denn genau passiert bei einer Veränderung, warum, unter welchen  Bedingungen, wie oft, in welchem Zeitraum usw., dann müssen wir uns die Mühe machen, solche Veränderungen genauer zu ‚analysieren‘. Dies bedeutet, wir müssen den ‚gesamten Veränderungsprozess‘ anschauen und versuchen, an ihm so viele ‚einzelne Momente‘ zu identifizieren, dass wir dann — eventuell — Hinweise finden, was genau wie und warum passiert ist.

Solch eine Analyse kann nur gelingen, wenn man folgende Fragen beantworten kann:

  1. Wie kann man die Situation ‚vor‘ der Änderung beschreiben?
  2. Wie kann man die Situation ’nach‘ der Änderung beschreiben?
  3. Worin genau bestehen die ‚Unterschiede‘?
  4. Wie kann man eine Wenn-Dann-Regel formulieren, die besagt, bei welcher ‚Voraussetzung‘ welche ‚Veränderung‘ so angewendet werden sollen, dass sich der gewünschte ’neue Zustand‘ mit allen ‚Veränderungen‘ ergibt?

Beispiel: Ein Passant beobachtet, dass eine Ampel von Orange auf Grün wechselt. Eine (einfache) Analyse könnte wie folgt funktionieren:

Veränderungsregel (einfach):

VORAUSSETZUNGEN

  1. Vorher: Die Ampel ist orange.
  2. Nachher: Die Ampel ist grün.
  3. Unterschied: Die Eigenschaft ‚orange‘ wurde durch die Eigenschaft ‚grün‘ ersetzt.

REGEL-TEXT

Veränderungsregel: Wenn: ‚Eine Ampel ist orange‘. Dann: (i) Entferne ‚Eine Ampel ist orange‘, (ii) Füge hinzu: ‚Eine Ampel ist grün‘

Will man diesen Gedanken vertiefen, dann stößt man schnell auf viele Fragen eine einzelne Veränderungsregel betreffend:

  1. Was an einer ‚Situation vorher‘ ist wichtig? Muss man ‚alles‘ aufschreiben oder nur ‚Teilaspekte‘? Wie bestimmt eine Gruppe von menschlichen Akteuren die ‚Grenze‘ von der Situation zur weiteren Umgebung? Falls nur eine teilweise Beschreibung: wie bestimmt man, was wichtig ist?
  2. Entsprechende Fragen stellen sich auch für die Beschreibung der ‚Situation nachher‘.
  3. Spannend ist auch die Frage nach dem ‚Wenn-Teil‘ der Veränderungs-Regel: Wie viele der Sachverhalte der Situation vorher sind wichtig? Sind alle wichtig oder nur einige? Wenn ich z.B. drei Sachverhalte unterscheiden kann: müssen sie alle ‚gleichzeitig‘ erfüllt sein oder nur ‚alternativ‘?
  4. Interessant ist auch der ‚Zusammenhang‘ zwischen der Situation vorher und nachher: Ist diese beobachtbare Veränderung (i) ‚ganz zufällig‘ oder (ii) kommt diesem Zusammenhang eine ‚gewisse Häufigkeit‘ (ein gewisser ‚Wahrscheinlichkeitswert‘) zu, oder (iii) tritt dieser Zusammenhang ‚immer‘ auf?

Schaut man sich mit diesen Fragen im Hinterkopf konkrete Beispiele der normalen Sprache zur ‚faktischen Zeit‘ an, dann kann man gut erkennen, wie ‚minimalistisch‘ Veränderung im Alltag sprachlich praktiziert wird:

  1. Peter geht nach oben.
  2. Kommst Du?
  3. Er trank das Glas aus.
  4. Sie öffnete die Tür.
  5. Wir aßen schweigend.

Alle diese Ausdrücke (1) – (5) thematisieren nur knapp die Art der Veränderung, deuten beteiligte Personen und Gegenstände an, und lassen den Raum, in dem dies geschieht, unerwähnt. Die genaue Zeitdauer wird auch nicht explizit angegeben. Die Sprecher-Hörer in diesen Situationen setzen offensichtlich voraus, dass jeder aufgrund der sprachlichen Äußerungen ’sich selbst die zugehörige Bedeutung erschließen‘ kann, einmal durch das ‚allgemeine Sprachwissen‘, zum anderen durch das ‚konkrete Involviert‘ sein in der jeweiligen konkreten Situation.

Einen ganz anderen Aspekt liefert im Fall einer ‚analytischen Zeit‘ die Frage nach der ‚Beschreibung selbst‘, der ‚Regel-Text‘:

Veränderungsregel: Wenn: ‚Eine Ampel ist orange‘. Dann: (i) Entferne ‚Eine Ampel ist orange‘, (ii) Füge hinzu: ‚Eine Ampel ist grün‘

Dieser Text enthält sprachliche Ausdrücke ‚Eine Ampel ist orange‘ sowie ‚Eine Ampel ist grün‘. Diese sprachlichen Ausdrücke haben in der normalen Sprache meistens eine bestimmte ’sprachliche Bedeutung‘, die sich in diesem Fall auf ‚Erinnerungen‘ beziehen, die aufgrund von ‚Wahrnehmungen‘ gebildet worden sind. Es geht um das abstrakte Objekt ‚Ampel‘, dem die abstrakten Eigenschaften ‚orange‘ bzw. ‚grün‘ zu- bzw. abgesprochen werden. Normalerweise haben Sprecher-Hörer des Deutschen gelernt, diese abstrakten Bedeutung anlässlich einer ‚konkreten Wahrnehmung‘ auf solche konkreten Gegebenheiten (reale Ampeln) zu beziehen, die sie im Rahmen ihres Sprach-Lernens als ‚zugehörig‘ gelernt haben. Ohne eine aktuelle konkrete Wahrnehmung handelt es sich nur um abstrakte Bedeutungen mittels abstrakter Erinnerungen, deren ‚Wirklichkeitsbezug‘ nur ‚potentiell‘ ist. Erst beim Auftreten einer konkreten Wahrnehmung mit den ‚passenden Eigenschaften‘ wird aus der ‚potentiellen‘ Bedeutung eine ‚real gegebene‘ (empirische) Bedeutung.

Der Text einer Veränderungs-Regel beschreibt also abstrakt einen möglichen Übergang von einer abstrakt geschilderten Situation zu einer abstrakt möglichen anderen Situation. Ob aus dieser abstrakten Möglichkeit jemals eine konkrete reale Bedeutung wird, ist offen. Die Verdichtung von ‚mehrmaligen Ereignissen‘ gleicher Art in der Vergangenheit (gespeichert als Erinnerung) im Konzept der ‚Häufigkeit‘ oder dann im Konzept einer ‚Wahrscheinlichkeit‘ kann zwar die ‚Erwartung eines Akteurs‘ dahingehend beeinflussen, dass er in seinem Verhalten ‚berücksichtigt‘, dass die Veränderung eintreten kann, wenn er die ‚auslösende Situation‘ wieder ‚herstellt‘, aber eine vollständige Sicherheit dafür gäbe es nur dann, wenn die beschriebene Veränderung auf einem vollständig deterministischen Zusammenhang beruhen würde.

Was in dieser einfachen Betrachtung nicht vorkommt, das ist der zeitlichen Aspekt: ob eine Veränderung sich im Millisekunden Bereich abspielt oder in Stunden, Tagen, Monaten Jahren, das markiert gewaltige Unterschiede.

Desgleichen die Bezugnahme auf einen Raum: Wo findet der statt? Wie?

Arbeitshypothese KONTEXT

Sprachlich Beschreibungen von Veränderungen geschehen als ‚abstrakte Formulierungen‘ und setzen in der Regel folgendes voraus:

  1. Ein gemeinsames sprachliches Bedeutungswissen in den Köpfen der Beteiligten.
  2. Eine Kenntnis der räumlichen Situation, in der die Veränderung stattfindet.
  3. Eine Kenntnis der beteiligten Personen und Gegenstände.
  4. Eine Kenntnis der zeitlichen Dimension.
  5. Optional: Eine Kenntnis von erfahrungsbasierter Wahrscheinlichkeit.

Veränderungs-Beschreibungen, die abstrakt abgefasst sind, müssen — je nach Fall und Anforderung — die Kontext-Aspekte (1) – (5) explizit machen, um ‚verständlich‘ sein zu können.

Die Forderung nach ‚Verständlichkeit‘ ist aber prinzipiell ‚vage‘, da die jeweiligen Kontexte beliebig komplex und beliebig unterschiedlich sein können.

ABSTRAKTE STRUKTUREN II = DENKEN

(Letzte Änderung: 31.Januar 2023, 19:15h)

Die bisher eingeführten abstrakten Elemente sind zwar noch wenige, aber sie erlauben schon jetzt, einen gewissen ‚abstrakten Raum‘ abzustecken. So gibt es bislang

  1. Abstrakte Elemente im aktuellen Gedächtnis (auch ‚Bewusstsein‘) auf der Basis von konkreter Wahrnehmung,
  2. die dann übergehen können in gespeicherte abstrakte — und dynamische — Elemente des potentiellen Gedächtnisses,
  3. weiterhin abstrakte Konzepte n-ter Ordnung im aktuellen wie auch im potentiellen Gedächtnis,
  4. Abstrakte Elemente im aktuellen Gedächtnis (auch ‚Bewusstsein‘) auf der Basis von konkreter Wahrnehmung, die als sprachliche Elemente fungieren,
  5. die dann ebenfalls übergehen können in gespeicherte abstrakte — und dynamische — Elemente des potentiellen (Sprach-)Gedächtnisses,
  6. ebenso abstrakte sprachlicher Konzepte n-ter Ordnung im aktuellen wie auch im potentiellen Gedächtnis,
  7. abstrakte Beziehungen zwischen abstrakten sprachlichen Elementen und abstrakten anderen Elementen des aktuellen wie potentiellen Gedächtnisses.
  8. sprachliche Ausdrücke für die Beschreibung von faktischen Veränderungen und
  9. sprachliche Ausdrücke für die Beschreibung von analytischen Veränderungen.

Die Generierung von abstrakten sprachlichen Elementen erlaubt also auf vielfache Weise die Beschreibung von Veränderungen von etwas Gegebenem, das (i) entweder als ‚bedingungsloses‘ Geschehen nur ‚geschildert‘ wird oder aber (ii) mit ‚Veränderungs-Regeln‘ arbeitet, die klar zwischen ‚Bedingung‘ und ‚Wirkung‘ unterscheidet. Dieser zweite Fall mit Veränderungsregeln lässt sich mit vielen Spielarten von ‚logischen Folgerungen‘ in Beziehung setzen. Tatsächlich kann man jede bekannte Form von ‚Logik‘ mit diesem allgemeinen Konzept von Veränderungsregeln ‚emulieren‘.

Diese hier nur angedeutete Idee wird im weiteren Verlauf etwas genauer untersucht und in verschiedenen Anwendungen demonstriert werden.

SEIN: ‚Fiktiv (Virtuell)‘ und ‚Real‘

(Letzte Änderung: 27.Februar 2023, 03:40h)

Schon diese wenigen Überlegungen lassen erkennen, dass es unterschiedliche Formen von ‚Sein‘ gibt.[5]

Im Schema von BILD 1 gibt es jene Gegebenheiten in der realen Außenwelt, die zum Auslöser von Wahrnehmungen werden können. Unser Gehirn kann diese ‚realen Gegebenheiten‘ aber nicht direkt erkennen, nur ihre ‚Wirkungen im Nervensystem‘: zuerst (i) als ‚Wahrnehmungsereignis‘, dann (ii) als ‚Gedächtniskonstrukt‘ unterschieden nach (ii.1) ‚aktuellem Gedächtnis (Arbeitsgedächtnis, Kurzzeitgedächtnis, …) und (ii.2) ‚potentiellem Gedächtnis‘ (Langzeitgedächtnis, verschiedene funktionelle Klassifikationen, ..).[6]

Nennt man die ‚Inhalte‘ von Wahrnehmung und aktuellem Gedächtnis ‚bewusst‘ [7], dann wäre die primäre Form von ‚Sein‘, deren wir direkt habhaft werden können, jene ‚bewussten Inhalte‘, die unser Gehirn uns aus all seinen neuronalen Berechnungen ‚aufbereitet präsentiert‘. Unsere ‚aktuelle Wahrnemungen‘ stehen dann für die ‚Realität da draußen‘, obgleich wir tatsächlich ‚die Realität da draußen‘ nicht ‚direkt, unmittelbar‘ erfassen können, sondern nur ‚vermittelt, indirekt‘.

Sofern wir uns ‚aktueller Inhalte‘ ‚bewusst‘ sind, die das ‚potentielle Gedächtnis‘ uns ‚zur Verfügung‘ stellt (im Alltag meist  ‚erinnern‘ genannt; im Ergebnis eine ‚Erinnerung‘),  haben wir auch eine Form von ‚primärem Sein‘ zur Verfügung, dieses primäre Sein muss aber aktuell keine Entsprechung in der Wahrnehmung haben; daher klassifizieren wir es als  ’nur erinnert‘ oder ’nur gedacht‘ oder ‚abstrakt‘ ohne ‚konkreten‘ Wahrnehmungsbezug.

Für die Frage der inhaltlichen Übereinstimmung zwischen ‚realer Gegebenheit‘ und ‚wahrgenommener Gegebenheit‘ sowie zwischen ‚wahrgenommener Gegebenheit‘ und ‚erinnerter Gegebenheit‘ gibt es zahllose Erkenntnisse, die allesamt darauf hindeuten, dass diese beiden Beziehungen unter dem Aspekt der ‚Abbildungsähnlichkeit‘ keine ‚1-zu-1‘ Abbildungen darstellen. Dies hat vielfache Ursachen.

Im Fall der Wahrnehmungsähnlichkeit mit den auslösenden realen Gegebenheiten spielt schon die Interaktion zwischen realer Gegebenheit und den jeweiligen Sinnesorganen eine Rolle, dann die Verarbeitung der primären Sinnesdaten durch das Sinnesorgan selbst sowie durch das nachfolgende Nervensystem. Das Gehirn arbeitet mit ‚Zeitscheiben‘, mit ‚Selektion/ Verdichtung‘ und mit ‚Interpretation‘. Letztere resultiert aus dem ‚Echo‘ aus dem potentiellen Gedächtnis, das aktuelle neuronale Ereignisse ‚kommentiert‘. Zusätzlich können unterschiedliche ‚Emotionen‘ den Wahrnehmungsprozess beeinflussen. [8]  Das ‚finale‘ Produkt aus Übertragung, Verarbeitung, Selektion, Interpretation und Emotionen  ist dann das, was wir als ‚Wahrnehmungsinhalt‘ bezeichnen.[6]

Im Fall der ‚Erinnerungs-Ähnlichkeit‘ deuten die Verarbeitungsprozesse des ‚Abstrahierens‘ und ‚Speicherns‘, der kontinuierlichen ‚Aktivierungen‘ von Gedächtnisinhalten sowie der ‚Wechselwirkungen‘ zwischen Erinnertem darauf hin, dass sich ‚Gedächtnisinhalte‘ im Laufe der Zeit deutlich verändern können, ohne dass der betreffende Mensch, der gerade erinnert, dies am Gedächtnisinhalt selbst  ablesen kann. Um diese Veränderungen erkennen zu können braucht man ‚Aufzeichnungen‘ von vorausgehenden Zeitpunkten (Fotos, Filme, Protokolle, …), die Anhaltspunkte für die realen Gegebenheiten liefern können, mit denen man seine Erinnerungen vergleichen kann.[9]

Wie man aus diesen Überlegungen erkennen kann, ist die Frage nach dem ‚Sein‘ keine triviale Frage. Einzelne Fragmente von Wahrnehmungen oder Erinnerungen sind tendenziell keine 1-zu-1 ‚Repräsentanten‘ möglicher realen Gegebenheiten. Dazu kommt die hohe ‚Veränderungsrate‘ der realen Welt, nicht zuletzt auch durch die Aktivitäten des Menschen selbst.

KOMMENTARE

wkp := Wikipedia

[1] Statt von ’normaler Sprache‘ im ‚Alltag‘ spreche ich hier auch einfach von ‚Alltagssprache‘

[2] Ein Denker, der sich mit diesem Phänomen des ‚alltäglich Konkretem‘ und gleichzeitig doch auch ‚alltäglich — irgendwie — Abstraktem‘ beschäftigt hat, ist Ludwig Wittgenstein (siehe [2a,b]). Er führte dazu den Begriff des ‚Sprachspiels‘ ein, ohne dass er im eigentlichen Sinne zu all diesen Überlegungen eine eigentliche ‚(empirische) Theorie‘ einführte.

[2b] Wittgenstein, L.; Tractatus Logico-Philosophicus, 1921/1922 /* Während des Ersten Weltkriegs geschrieben, wurde das Werk 1918 vollendet. Es erschien mit Unterstützung von Bertrand Russell zunächst 1921 in Wilhelm Ostwalds Annalen der Naturphilosophie. Diese von Wittgenstein nicht gegengelesene Fassung enthielt grobe Fehler. Eine korrigierte, zweisprachige Ausgabe (deutsch/englisch) erschien 1922 bei Kegan Paul, Trench, Trubner und Co. in London und gilt als die offizielle Fassung. Die englische Übersetzung stammte von C. K. Ogden und Frank Ramsey. Siehe einführend Wikipedia-DE: https://de.wikipedia.org/wiki/Tractatus logicophilosophicus*/

[2c] Wittgenstein, L.; Philosophische Untersuchungen,1936-1946, publiziert 1953 /* Die Philosophischen Untersuchungen sind Ludwig Wittgensteins spätes, zweites Hauptwerk. Es übten einen außerordentlichen Einfluss auf die Philosophie der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts aus; zu erwähnen ist die Sprechakttheorie von Austin und Searle sowie der Erlanger Konstruktivismus (Paul Lorenzen, Kuno Lorenz). Das Buch richtet sich gegen das Ideal einer logik-orientierten Sprache, die neben Russell und Carnap Wittgenstein selbst in seinem ersten Hauptwerk vertreten hatte. Das Buch ist in den Jahren 1936-1946 entstanden, wurde aber erst 1953, nach dem Tod des Autors, veröffentlicht. Siehe einführend Wikipedia-DE: https://de.wikipedia.org/wiki/Philosophische Untersuchungen*/

[3] Im Grenzfall sind diese ‚anderen‘ Phänomene des Alltags auch sprachliche Ausdrücke (wenn man ‚über‘ einen Text oder sprachliche Äußerungen‘ spricht).

[4] wkp [DE]: Sprachfamilien der Welt, URL: https://de.wikipedia.org/wiki/Sprachfamilien_der_Welt . Anmerkung: Aufgrund von ‚räumlicher Nähe‘ oder zeitlichem Zusammenhang (oder beidem) kann es unterschiedlich viele Ähnlichkeiten zwischen verschiedenen Sprache geben.

[5] Das Wort ‚Sein‘ ist eines der ältesten und beliebtesten Konzepte in der Philosophie. Im Fall der europäischen Philosophie tritt das Konzept ‚Sein‘ im Kontext der klassischen Griechischen Philosophie auf, und verbreitet sich durch die Jahrhunderte und Jahrtausende in ganz Europa und dann in jenen Kulturen, die mit der Europäischen Kultur einen gedanklichen Austausch hatten/ haben. Die systematische Beschäftigung mit dem Konzept ‚Sein‘ nannten und nennen  die Philosophen ‚Ontologie‘. Siehe dazu überblicksmäßig den Artikel ‚Ontologie‘ in der Deutschen Wikipedia: https://de.wikipedia.org/wiki/Ontologie

[6] Zum Thema ‚Wahrnehmung‘ und ‚Gedächtnis‘ gibt es eine riesige Literatur in verschiedenen empirischen Disziplinen. Die wichtigsten dürfen wohl die ‚Biologie‘, die ‚experimentelle Pschologie‘ und die ‚Gehirnwissenschaften‘ sein; diese ergänzt um die philosophische ‚Phänomenologie‘, und dann Kombinationen von diesen wie z.B. ‚Neuro-Psychologie‘ oder ‚Neuro-Phänomenologie‘ usw. Dazu gibt es unzählige weitere spezielle Disziplinen wie z.B. die ‚Linguistik‘ und die ‚Neuro-Linguistik‘.

[7] Eine weiterhin offene Frage ist, wie das im Alltag geläufige Konzept ‚Bewusstsein‘ in diesem Kontext einzuordnen ist. Wie auch der Begriff ‚Sein‘ war und ist der  Begriff ‚Bewusstsein‘  in der neueren Europäischen Philosophie  sehr prominent, hat aber auch starke Beachtung in vielen empirischen Disziplinen gefunden;  besonders im Spannungsfeld von philosophischer Phänomenologie, Psychologie und Gehirnforschung gibt es eine lange und intensive Debatte darüber, was man denn jetzt unter ‚Bewusstsein‘ verstehen soll. Aktuell (2023) gibt es kein klares, allseits akzeptiertes Ergebnis dieser Diskussionen.  Von den vielen verfügbaren Arbeitshypothesen erscheint dem Autor dieses Textes die Anknüpfung an die empirischen Modelle zum ‚aktuellem Gedächtnis‘ in enger Verknüpfung mit den Modellen zur ‚Wahrnehmung‘ bislang am ehesten nachvollziehbar. In diesem Kontext wäre auch das Konzept des ‚Unbewussten‘ einfach erklärbar. Für einen Überblick siehe den Eintrag ‚Bewusstsein‘ in der Deutschen Wikipedia: https://de.wikipedia.org/wiki/Bewusstsein

[8] Im Alltag erleben wir ständig, dass verschiedene Menschen die gleichen realen Ereignisse unterschiedlich wahrnehmen, je nachdem in welcher ‚Stimmung‘ sie sich befinden, welche aktuellen Bedürfnisse sie gerade haben, über welches ‚Vor-Wissen‘ sie verfügen, und wie ihre reale Position zur realen Gegebenheit beschaffen ist, um nur einige Faktoren zu bennen, die eine Rolle spielen können.

[9] Klassische Beispiele für die mangelnde Qualität von Erinnerungen bilden seit jeher ‚Zeugenaussagen‘ zu bestimmten Vorgängen.  Zeugenaussagen stimmen fast nie ‚1-zu-1′ überein, bestenfalls ’strukturell‘, und selbst darin kann es ‚Abweichungen‘ unterschiedlicher Stärke geben.

[10] Die Erkenntnis über die ‚Zeitscheiben‘ bei der Verarbeitung von  körper-externen Gegebenheiten findet sich in vielen Arbeiten der experimentellen Psychologie und der Gehirnforschung. Ein besonders eindrucksvolles Beispiel, wie dieser Faktor sich im Verhalten des Menschen auswirkt, bietet das Buch von Card, Moran und Newell (1983), siehe [11].

[11] Stuart K.Card, Thomas P.Moran, Allen Newell, (1983),The Psychology of Human-Computer Interaction, CRC-Press (Taylor & Francis Group), Boca Raton – London – New York. Anmerkung: Aus Sicht des Autors dieses Textes war  dieses Buch ein Meilenstein in der Entwicklung der Disziplin  der  Mensch-Maschine Interaktion. 

[12] Zur Frage des Gedächtnisses, speziell zur Frage der Mechanismen, die für die Speicherung von Inhalten und deren weitere Verarbeitung (z.B. auch ‚Vergleiche‘) zuständig sind, gibt es viel Literatur, aber noch keine endgültige Klarheit. Es wird hier wieder der Weg einer ‚hypothetischen Strukturbildung‘ gewählt: explizite Annahme einer Struktur, die die verfügbaren Phänomene ‚einigermaßen erklärt‘ bei Offenheit für weitere Modifikationen.