Hier ein kurzer Bericht von der BiG WALD-Exkursion vom 10.11.24 in Kooperation mit dem Vogelschutzverein Schöneck.
BILD : Die Gruppe der Teilnehmer vor dem Haus der Vogelschutzfreunde. Die Frau mit dem Korb vor dem Fenster ist Monika Pickert-Andres und neben ihr ‚im Fenster‘ ihr Mann Thomas Andres. Yvonne Heil ist die Dritte von links.
Am 10.11.24 fand in Kooperation von BiG (Bürger im Gespräch) und dem Vogelschutzverein Schöneck eine Exkursion im „Wald zwischen Kilianstädten und Büdesheim‘ statt. Unter dem Titel „Jetzt wird’s tiny Die faszinierende Biologie der Moose und Flechten“ wurde das Thema Moose und Flechten als Teil unseres Ökosystems beleuchtet.
Hierzu hatte BiG zwei Biologen geladen. Monika Pickert-Andres und ihr Mann Thomas Andres als versierte Fachleute boten uns hochinteressante Einblicke in die Welt der Mikrohabitate. Sehr anschaulich präsentierten sie die Biologie dieser besonderen Arten. Auch wurden Exemplare aus anderen Waldregionen demonstriert. Die Teilnehmer konnten sich zusätzlich mikroskopische Exponate und andere Sammelstücke unter dem Binocolar anschauen.
Bei einem Rundgang durch den Wald konnte anschaulich gezeigt werden, dass dieser Wald wenige Flechtenarten enthält, verschiedene Moosarten konnten jedoch angesprochen werden. Beide wiesen auf die Bedeutung dieser Lebewesen hin und führten ihren Stellenwert im globalen Ökosystem auf.
Anschließend gab es im Vogelschutzvereinshäuschen bei Kaffee und Kuchen einen lebhaften Austausch interessierter Bürger.
Anmerkung: Weitere Exkursionen werden folgen, dazu auch bald ‚Round Table Gespräche‘ mit Experten zu verschiedenen Themen unseres Waldes.
DEMOKRATIE in SCHÖNECK – Etwas Neues?
Im letzten Rundbrief ( Siehe: https://www.oksimo.org/2024/11/04/rundbrief-big-wald-ankuendigung-exkursion-so-10-nov-24-14-16h-bericht-vom-so-27-okt-24-demokratie-in-schoeneck-impressionen/ ) hatten wir an dieser Stelle von einem Brief berichtet, den wir vom Gemeindevorstand Schöneck am 21.Okt als BiG bekommen haben. Es ging um den Hinweis, dass wir als ‚Privatleute‘ in Zukunft für die Nutzung von Räumen der Gemeinde entsprechend der Gebührenordnung zahlen müssten. Zum Glück hatte wir vor dem Start der Bürgerinitiative ‚Bürger im Gespräch (BiG)‘ – damals noch im Coronajahr 2022 – das Problem mit den Gebühren für ‚normale Bürger‘ schon erkannt. Kurz bevor wir deswegen die Idee von einer ‚Partei übergreifenden Bürgerinitiative‘ wieder fallen lassen wollten, entdeckte einer, dass es im Deutschen Parteigesetz den §1.2 gibt, der alle Parteien dazu auffordert, sich nicht nur um Bürger zu bemühen, die bereit sind, sich innerhalb der wichtigen Fraktionen zu engagieren, sondern sich auch ganz grundsätzlich für Bürger einsetzen sollten, um diese zu ermutigen, sich als Bürger für Themen der Gemeinde zu engagieren. Da einer den direkten Draht zum Vorstand des Grünen Ortsverbands Schöneck hatte, wurde dieser gefragt, ob er sich vorstellen könnte, solch eine Bürgerinitiative im Sinne des §1.2 zu unterstützen (jede andere Partei hätte es auch sein können!). In einer denkwürdigen Sitzung am 5.Januar 2023 entschied der Vorstand, sich auf das Risiko Bürgerinitiative einzulassen. Immerhin konnte der Vorstand zu diesem Zeitpunkt nicht wissen, was sich daraus entwickeln würde, insbesondere auch unter der Bedingung, den Bürgern in BiG völlig freie Hand zu lassen. Was würde dies im weiteren Verlauf für den Grünen Ortsverband bedeuten?
23 Monate später wissen wir, was passiert ist: Es gibt vier aktive Themengruppen (Wald, Wasser, Geoinformationssysteme, Energie) und es gibt spannende Pläne für das Jahr 2025.
Als BiG haben wir dem Gemeindevorstand entsprechend am 21.Okt 2024 geantwortet. Am 7.Nov 2024 konnte uns dann Frau Bürgermeisterin Wacker in einem Schreiben mitteilen, dass der Gemeindevorstand unser Vorgehen nach §1.2 des Parteiengesetzes mit Unterstützung des Grünen Ortsverbands akzeptiert. Dies ist natürlich sehr erfreulich. Auf einen Hinweis in unserem Antwortschreiben vom 27.Okt 24, dass es für eine bürgerfreundliche Atmosphäre in unserer Gemeinde vielleicht hilfreich wäre, dass alle Bürger, die sich zu einer Bürgerinitiative zusammen schließen – auch unabhängig von einer konkreten Partei –, Räume der Gemeinde unentgeltlich nutzen können, ist der Gemeindevorstand nicht eingegangen. Aber, was noch nicht ist kann vielleicht noch werden 🙂
Für alle Bürger in der Gemeinde ist es aber vielleicht eine wichtige Anregung, zu wissen, dass sie über den §1.2 jede Partei in der Gemeinde zwecks Unterstützung fragen können. Das regt zum ‚Träumen‘ an: wenn tatsächlich alle (!) Parteien auf diese Weise immer mehr Bürger für ein parteiübergreifendes Engagement zu wichtigen Themen in der Gemeinde motivieren könnten? …
Wir als BiG-er freuen uns erst mal, dass wir engagiert weiter arbeiten können. Ob der Grüne Ortsverband sich auch über uns freut? Politik kann spannend sein 🙂
Herzliche Grüße,
Gerd Doeben-Henisch
(Koordinator von BiG)
PS2: Gerd Doeben-Henisch ist Bürger von Schöneck, emeritierter Prof. der Frankfurt University of Applied Sciences und ist Mitglied im Vorstand der Grünen Schöneck.
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DEMOKRATIE
Nach dem Grundgesetz sind alle gewählten Vertreter nur ihrem Gewissen und dem ‚Wohl des Volkes‘ verpflichtet. Selbst Parteiprogramme dürfen diese individuelle Entscheidung nicht eingrenzen! Dies ist eine sehr starke Form von repräsentativer Demokratie. Was aber ist, wenn die Bürger das Vertrauen in die gewählten Vertreter verlieren? Miteinander reden kann helfen … BiG (Bürger (auch gewählte Vertreter) im Gespräch) versteht sich als kleiner Beitrag zu dieser großen Aufgabe.
WASSER : Schöneck (und Niederdorfelden) hängt mit dem Wasser zu 80% vom MKK ab. Der MKK benötigt 40% Wasser von außerhalb. Deutschland hängt zu 100% von der globalen Wassermaschine ab. Diese gerät seit einigen Jahren immer mehr außer Kontrolle. Warten wir einfach ab oder schauen wir uns das genauer an? Email:big-wasser@oksimo.org . WEB: https://www.oksimo.org/big-wasser-basis/
GIS (Geoinformationssystem) : Per Gesetz seit 2023 für alle Gemeinden vorgeschrieben. Wie können wir das für die Verwaltung und für die Kommunikation mit den Bürgern besser nutzen? (In Kooperation mit Prof. Seuß von der Frankfurt University of Applied Sciences) Email: big-gis@oksimo.org . WEB: https://www.oksimo.org/gis/
Demokratie@Work (D@W) : Eine neue Initiative ab Frühjahr 2025 zusammen mit dem Start des ‚Demokratie Labors Schöneck‘. Weitere Infos werden folgen.
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Zum BiG-Email-Rundbrief:
!!! Hinweis: Emails an die Adresse big@oksimo.org landen NICHT automatisch auf dem Verteiler. Dieser ist geschützt, auch wegen der ausdrücklichen Bitte einzelner, ihre Adressen zu schützen !!!
Man kann mit der BiG-Email-Liste kommunizieren, indem man in den BETREFF Schlüsselworte einfügt:
LISTE START : Anmelden zur BiG-Email-Liste
LISTE STOP : Abmelden von der Liste
ALLE : Ihr eigener Text darf an alle Teilnehmer weitergeleitet werden
Im folgenden handelt es sich um einen Bericht und einen Kommentar zu einer Konferenz. Dieser Bericht repräsentiert eine Einzelmeinung. Sollten sich weitere Beteiligte explizit äußern, so könnte man den Bericht und den Kommentar entsprechend erweitern.
Teil 1: Verwaltungen und die Herausforderung von Bürger:innenbeteiligung für Sozial- und Umweltverträglichkeit. Moderation: Prof‘in Dr. Birgit Blättel-Mink, Goethe-Universität Frankfurt am Main
Dr. Michael Zschiesche, Unabhängiges Institut für Umweltfragen (UFU): Digitalisierung in der Öffentlichkeitsbeteiligung – Stand und Perspektiven
Überleitender Kommentar
Prof. Dr. Frank Brettschneider, Universität Hohenheim Digitalisierung mit Bürger:innenbeteiligung / Bürger:innenbeteiligung mit digitalen Instrumenten
Podiumsdiskussion: Prof‘in Dr. Birgit Blättel-Mink, Goethe-Universität Frankfurt am Main, Prof. Dr. Jörn Lamla, Universität Kassel, Prof. Dr. Christian Schrader, Hochschule Fulda
Überleitung zu Teil 2
Teil 2: Citizen Science, Sustainability and Digitality Moderation: Prof. Dr. Matthias Söllner, Universität Kassel
Dr. Katrin Vohland, Naturhistorisches Museum Wien Citizen Science and Sustainability – Large expectations and Some Challenges
Prof. Dr. Yen-Chia Hsu, University of Amsterdam Empowering Local Communities Using Artificial Intelligence
Podiumsdiskussion: Prof. Dr. Gerd Döben-Henisch, Frankfurt University of Applied Sciences, Franziska Ohde, Goethe-Universität Frankfurt am Main, Prof. Dr. Matthias Söllner, Universität Kassel
Wie man aus der Programmankündigung ersehen kann, wurde diese Konferenz organisiert von der Projektgruppe „Nachhaltige Intelligenz – Intelligente Nachhaltigkeit [NI-IN]“ des Zentrums für verantwortungsbewusste Digitalisierung (ZEVEDI). Es war die zweite Konferenz, die von dieser Forschungsgruppe organisiert worden ist. Der Autor dieses Textes ist Mitglied dieser Projektgruppe.
I. EINLEITUNG
Begrifflicher Kontext
Wie man aus dem Projektthema der NI-IN Projektgruppe ersehen kann, Enthält die Aufgabenstellung ein ‚Oberthema‘ mit „Nachhaltiger Intelligenz – Intelligenter Nachhaltigkeit“ und dazu eine Reihe von ‚Teilaspekten‘, die sich diesem Oberthema zuordnen lassen. Das Konferenzthema „Partizipation und Nachhaltigkeit in der Digitalität“ kommt dabei mit diesem Wortlaut weder im Oberthema der Projektaufgabenstellung explizit vor noch in den aufgezählten Teilaspekten. Dies hat seinen Grund darin, dass während der Forschungsarbeit seit Juli 2021 die nicht ganz einfachen Begriffsfelder schrittweise analysiert worden sind und aufgrund dieser Analyse verschiedene strukturelle Bedeutungsfelder mit wichtigen strukturellen Beziehungen sichtbar geworden sind. Eine grobe Skizze der analysierten Begriffen mit Bedeutungsfeldern könnte man so umschreiben (Sicht des Autors; in den Augen der anderen Projektmitgliedern möglicherweise anders akzentuiert):
Schon die beiden Leitbegriffe ‚Nachhaltigkeit‘ und ‚Intelligenz‘ lassen sich ‚jeder für sich‘ nicht so ohne weiteres analysieren. Noch gewagter wird es, wenn man das ‚Zusammenspiel‘ betrachten will. Liebhaber der ‚klaren Verhältnisse‘ dürften an dieser Stelle dahin tendieren, die ‚Büchse der Pandora‘ erst gar nicht zu öffnen. Leidenschaftliche Forscher mit eingebauter Neugier und ein gewisser Risikobereitschaft fühlen sich aber vielleicht ‚angelockt‘. Fakt ist, dass die Projektgruppe versucht hat, sich diesem konzeptuellen ‚Dickicht‘ ein wenig zu nähern. Aufgrund der disziplinären Vielfalt der Projektgruppe gab es viele interessante Perspektiven, die zueinander finden mussten. Solch ein ‚zueinander finden‘, das zudem idealerweise in dem heute so modischen Format der ‚Transdisziplinarität‘ stattfinden sollte, braucht allerdings naturgemäß erheblich mehr Zeit, als wenn nur Fachkollegen einen Austausch pflegen. Im heutigen Professorendasein ist angesichts der vielfältigen Verpflichtungen Zeit aber Mangelware. Die Suche war somit von Beginn her endlich dimensioniert.
Konzept Intelligenz
Das Konzept Intelligenz ist bis heute weder im Bereich der biologischen Systeme noch im Bereich der nicht-biologischen Systeme, hier den Maschinen, hinreichend erklärt. Dies ist sehr misslich.
Während die Wissenschaften in den letzten 120 Jahren für biologische Systeme erste Konzepte entwickelt haben, die über alle biologische Systeme hinweg empirische anwendbar sind wie auch begrenzte Vergleiche zwischen biologischen Systeme hinsichtlich von definierten Intelligenzeigenschaften zulassen, kann man dies für die maschinellen Systeme nicht behaupten. Hier gibt es weder einen einheitlichen Intelligenzbegriff noch lassen die verschiedenen Begriffe einen einheitlichen Vergleich über alle Systeme hinweg zu. Die maschinellen Intelligenzbegriffe sind sehr speziell. Ein Vergleich zwischen biologischer und maschineller Intelligenz ist von daher in der Regel nicht einfach möglich.
Erschwerend kommt hinzu, dass nahezu alle Intelligenzbegriffe — für biologische wie auch maschinelle Systeme — Eigenschaften ‚individueller‘ Systeme beschreiben, niemals ‚kollektive Intelligenzleistungen‘! Im Falle von biologischen Systemen, die überwiegend in Populationen bzw. hochspezialisierten ‚Gesellschaften‘ auftreten, nützen diese individuellen Intelligenzbegriffe wenig. Eine irgendwie bizarre Situation: angekommen im ‚Anthropozän‘ in einer sogenannten ‚Wissenschaftsgesellschaft‘ weiß der Mensch bislang nicht so recht, was es mit seiner ‚Kollektiven Intelligenz‘ auf sich hat. Ein interessanter Ausgangspunkt auf dem Weg in eine unbekannte Zukunft.
Andererseits haben führende Forscher der maschinellen Intelligenz mittlerweile erkannt, dass maschinelle Intelligenz in der Zukunft nur dann für die menschliche Population von Nutzen sein kann, wenn besser verstanden wird, was genau diese kollektive menschliche Intelligenz ist, und wie in diesem — bislang noch wenig erforschten — Raum kollektiver Intelligenz maschinelle Intelligenz von Nutzen sein kann, um eine globale nachhaltige Biosphäre mit den Menschen als Teil davon zu ermöglichen. [3]
In diesem Zusammenhang muss man auch nochmals darauf hinweisen, dass das neue Konzept ‚Digitalität‘ in den Gesellschaftswissenschaften sich großer Beliebtheit erfreut, dass es aber in seinem Gehalt schwer bis gar nicht erläutert werden kann. Naheliegend ist, dass man die ‚Bedeutung‘ des Konzepts ‚Digitalität‘ im Interaktionsfeld von menschlicher Gesellschaft und jener ‚Technologie‘ ansiedelt, die oft ‚digitale Technologie‘ genannt wird. Der Begriff der ‚digitalen Technologie‘ ist aber ebenfalls ein ‚Bedeutungsmonster‘, da hier zunächst mal alles drunter fällt, was irgendwie in Beziehung gesetzt werden kann zu einer ‚Hardware‘, in der ‚digitale Baueinheiten‘ benutzt werden. Das reicht dann von einfachsten ‚Chips‘ zu komplexen Chips mit unterschiedlichsten Funktionalitäten, die in mehr oder weniger komplexen größeren Einheiten ‚verbaut‘ sind: diverse Maschinen, Maschinenaggregationen, Computernetzwerke, komplexe Rechenzentren, Fahrzeugen, Schiffen, Flugzeuge, Gebäude, medizinische Geräte, Waffensysteme, Gebrauchsgegenstände und vieles mehr. Jedes dieser technische System beinhaltet unterschiedlich Algorithmen von bis zu vielen Millionen Zeilen Code, die unfassbar viele verschiedene ‚Verhaltensweisen‘ dieser technische Systeme ermöglichen. Ein Versuch, die Vielzahl dieser Systeme — sowohl bzgl. der Hardware wie auch bzgl. der Software und dann auch bzgl. der daraus resultierenden Verhaltensdynamik — in ihrer Gesamtheit zu beschreiben ist schon im Ansatz gnadenlos zum Scheitern verurteilt. Dieses ‚Mega-Bedeutungsmonster‘ mit einem Konzept wie ‚Digitalität‘ ‚einzufangen‘, ihm dadurch seine ‚Ungeheuerlichkeit‘ zu nehmen, ist psychologisch verständlich, gaukelt aber eine Klarheit und Einfachheit vor, die es real schlicht nicht gibt. Tatsächlich haben wir als Gesellschaft ein akutes Problem, das sich durch ’schöne Worte‘ allein nicht befrieden lässt.
Konzept Nachhaltigkeit
Eine Analyse des Bedeutungsraumes des Konzepts ‚Nachhaltigkeit‘ ist — falls man den Vergleich überhaupt wagen will — um Dimensionen schwieriger als der Bedeutungsraum zum Konzept ‚Intelligenz‘.
Eine mögliche Strategie der ‚Begrenzung‘ des Bedeutungsraums ist der Blick auf die Konferenzen und Dokumente der Vereinten Nationen seit ca. den 1980iger Jahren, ein Ansatz, den die Projektgruppe zunächst gewählt hatte.
Am ‚populärsten‘ sind die 17 Entwicklungsziele der Agenda 2030. [1a,b] Wie aber schon mehrfach beobachtet, ist die Bedeutungsfestlegung der einzelnen Entwicklungsziele eher schwierig; ihre Beziehungen untereinander zeigen viele Konflikte; der tatsächliche Bezug zum Konzept ‚Nachhaltigkeit‘ ist nicht ganz klar: welche Art von Nachhaltigkeit ist gemein?
Folgt man der Entwicklung des UN-Konzepts zur ‚Nachhaltigkeit‘ rückwärts zu den ‚Anfängen‘, dann stößt man auf den sogenannten ‚Brundtland Report‘ von 1987. In ihm ringen die Verfasser um die grundlegende Idee, was Nachhaltigkeit bedeuten kann. [2]
Im Brundtland Report steht der Mensch im Zentrum der Überlegungen: letztlich ist es das ‚Verhalten‘ der Menschen, das ‚Auswirkungen‘ auf den Planet Erde wie auch auf die gesamte ‚Biosphäre‘ hat, von der die Menschen einen kleinen Teil bilden. Und beim Menschen wird das Verhalten entscheidend von seinem ‚Wissen‘ im allgemeinsten Sinne geprägt. Wissen kann ein differenziertes Verhalten ermöglichen, ob dies aber tatsächlich geschieht und wie genau, das entscheiden dann die aktuellen Emotionen mit all ihren Facetten.
Für das Konzept des Wissens ist zu beachten, dass es für eine minimale Beschäftigung mit einer möglichen Zukunft unabdingbar ist, dass das verfügbare Wissen sich in einem Zustand befindet, der nachvollziehbare und belastbare ‚Prognosen‘ möglich macht, andernfalls paralysiert sich das Wissen selbst: die Menschen taumeln dann gleichsam ‚in einer Wolke von Möglichkeiten‘ dahin, ohne klare Ziele, ohne brauchbare Abstimmungen.
Das einzige Format in der bisherigen Kulturgeschichte der Menschheit, das über diese Eigenschaft ’nachvollziehbarer und belastbarer Prognosen‘ bietet, ist das Konzept der ‚empirischen Wissenschaften‘.[4]
Kontext Gesellschaft
Die abstrakten Konzepte ‚Intelligenz‘ und ‚Nachhaltigkeit‘ können auf bestimmte ‚Strukturen‘ hindeuten, die ‚Realisierung‘ dieser Strukturen findet aber in konkreten gesellschaftlichen Systemen statt, deren Realitäten letztlich festlegen, was wie wann und wo real stattfinden kann.
Autoritäre Gesellschaftssysteme bieten andere Realisierungsbedingungen als ‚demokratisch verfasste‘ Systeme. ‚Verfassungen‘ präzisieren die ‚Rahmenbedingungen‘ für mögliches ‚legales Handeln‘ weiter, dazu Verfassungsorgane, eine Vielzahl von Verwaltungseinheiten, und vieles mehr . Die entsprechenden Text-Dokumente beschreiben mit mehr oder weniger ‚abstrakten Konzepten‘, was möglicherweise ‚konkret‘ stattfinden kann/ sollte oder auch nicht.
Eigentlich ist die Gesamtheit der Akteure einer Gesellschaft, die Gesamtheit der Bürger, der grundlegende ‚Souverän‘ für all diese ‚Festlegungen‘. Sobald aber dieser primäre Souverän dieses ‚System von Regeln‘ verabschiedet hat, hat er sich quasi ’selbst verpflichtet‘ und ist fortan auf diese Weise ein ‚kontrollierter primärer Souverän‘, dessen ‚Macht‘ — der regelbasierten Intention nach — nur noch innerhalb der vereinbarten Regeln wirksam werden sollte.
Ein fundamentales Charakteristikum einer regelbasierten Machtausübung — zumindest wie sie in Deutschland verstanden und praktiziert wird — besteht darin, dass der Bürger als Entscheider — ausgenommen von politischen Wahlen — praktisch eliminiert ist. Was immer ein Bürger fühlt, denkt, tut, es hat keinen offiziellen Einfluss mehr auf die ‚legalen Entscheider‘ auf allen Ebenen.
Im Idealfall sind die ‚legalen Entscheider‘ (i) offen für die Bedürfnisse der Bürger, für die Notwendigkeiten der Gestaltung von Kommunen, Landkreise usw., sie besitzen (ii) hinreichende Kompetenzen, um die jeweiligen Situationen angemessen beurteilen zu können, und (iii) sie sind fähig, in den vielfältigen Gremien Emotionen beiseite zu lassen und entscheiden nach dem verfügbaren Wissen. Falls diese Forderungen nicht angemessen erfüllt werden, hat die Gesellschaft beliebig viele Probleme.
Ohne Bezugnahme auf viele hier relevante Details kann man mit Sicherheit voraussagen, dass eine Nichterfüllung der Anforderungen (i) – (iii) — nennen wir diese Anforderungsliste das ‚Legalistische Entscheider Profil‘ — sich unmittelbar auf den Zustand einer ‚legal regulierten Gesellschaft‘ auswirken wird. So können z.B. aktuell gegebene Problemstellungen zu wenig erkannt werden, dementsprechend werden sie nicht bearbeitet, und können frühestens im zeitlichen Takt der ‚politischen Wahlen‘ neu angestoßen werden; und dann ist nicht sicher, dass die neu Gewählten die ungelösten Probleme dann aufgreifen werden. Für Problemstellungen mit einer Wirkgeschichte von vielen Jahren erscheint die Lage sogar tendenziell hoffnungslos.
Wer mit der Brille dieser kurzen Bemerkungen auf die aktuelle Situation der Bundesrepublik Deutschland schaut, und die lange Liste ungelöster Probleme der letzten Jahre anschaut, der kann möglicherweise den Eindruck gewinnen, dass …
Partizipation
Mit Blick auf das ‚legalistische Entscheider Profil‘ kann man — unter Berücksichtigung der Erfahrung von ca. 77 Jahren demokratische Gesellschaft in Deutschland — feststellen, dass keine der drei Anforderungen voll erfüllt wird. Eher muss man sagen, dass alle drei Anforderungen vielfach nicht erfüllt werden. Diese Nichterfüllung liegt nicht daran, dass die legalen Entscheider möglicherweise ‚unlautere Absichten‘ verfolgen (was im Einzelfall natürlich nicht ausgeschlossen werden kann und auch schon nachgewiesen wurde), sondern daran, dass die zahlenmäßig verschwindet geringe Menge der legalen Entscheider verglichen mit der ungeheure Menge der Bürger und der unfassbar vielen komplexen Problemstellungen objektiv nicht in der Lage ist, die Anforderungen (i) – (iii) auch nur annähernd zu erfüllen, selbst wenn die legalen Entscheider es ernsthaft wollten.
In dieser Situation bieten sich viele Antworten an. Die Skala reicht von ‚totaler Abschaffung dieses Systems‘ bis hin zu unterschiedlich moderierten Formen der ‚Partizipation‘ der Bürger.
Während die ‚totale Abschaffung‘ kurzfristig ein ‚relatives Übel‘ beseitigen würde (was möglicherweise aber gar nicht so rein ‚Übel‘ ist, wie man es unterstellt), würden wir uns im nächsten Moment im ‚totalen Chaos‘ wiederfinden, in dem eher nichts mehr gehen würde. Komplexität löst man nicht durch grobe Vereinfachungen.
Im Falle der Aktivierung von ‚unterschiedlich moderierten Formen der Partizipation‘ würde das System der ‚legalen Entscheider‘ im Prinzip erhalten bleiben, die einzelnen Anforderungen des ‚legalistischen Entscheider Profils‘ könnten aber deutlich besser als ohne Partizipation erfüllt werden.
An dieser Stelle setzt die Konferenz ein. Siehe dazu Teil 2:
[3] Michael L. Littman, Ifeoma Ajunwa, Guy Berger, Craig Boutilier, Morgan Currie, Finale Doshi-Velez, Gillian Hadfield, Michael C. Horowitz, Charles Isbell, Hiroaki Kitano, Karen Levy, Terah Lyons, Melanie Mitchell, Julie Shah, Steven Sloman, Shannon Vallor, and Toby Walsh. “Gathering Strength, Gathering Storms: The One Hundred Year Study on Artificial Intelligence (AI100) 2021 Study Panel Report.” Stanford University, Stanford, CA, September 2021. Doc: http://ai100.stanford.edu/2021-report.
[4] Neben der ‚empirischen Wissenschaft‘ selbst, die in Europa grob im 16.Jahrhundert begann, gibt es auch von Anfang an eine philosophische Beschäftigung mit dem Thema, das gegen Ende des 19.Jahrhunderts, Anfang des 20.Jahrhunderts unter der Bezeichnung ‚Wissenschafts-Philosophie‘ bekannt wurde (in Deutschland auch gerne ‚Wissenschaftstheorie‘ genannt).
Wie im vorausgehenden Artikel zu Bürgerbeteiligung und politische Parteien hervorgehoben wurde, muss das formale Prinzip der Gründung von Parteien, über die gewählte Repräsentanten bereit gestellt werden, um in verfassten Gremien die Regeln für ein gemeinsames Leben zu entscheiden, unabdingbar ergänzt werden um jene Kompetenzen, die notwendig sind, um die anstehenden Fragen sachlich angemessen erkennen und beantworten zu können.
Im Grundgesetz und im Parteiengesetz werden keinerlei Hinweise geliefert, wie die Einbeziehung notwendiger Kompetenzen real vonstatten gehen soll. Das formale Element der periodischen Wahlen ist als solches keinerlei Beitrag zur Frage von wirksam geteilten Kompetenzen. Im Parteiengesetz findet sich zwar der unübersehbare Hinweis, dass mit der Bereitstellung von Kandidaten für eine Wahl allein der Auftrag einer politischen Partei nicht vollstän dig erfüllt wird, aber konkrete Hinweise, wie eine kontinuierliche und nachhaltige Einbeziehung von Bürgern und ihrer Kompetenzen über das bloße Wählen von Repräsentanten hinaus aussehen sollte, findet sich nicht.
In diesem Zusammenhang ist interessant, was der amtierende Präsident des Deutschen Bundestages, Dr. Wolfgang Schäuble, dazu in der FAZ vom 1.Juli 2021 in der Nr.149, S.6, schreibt.
ARTIKEL SCHÄUBLE
(1) Schäuble diagnostiziert globale stark vernetzte komplexe Herausforderungen, die einhergehen mit einer Vielfalt, die nach einer Reduktion auf das Wesentliche verlangt, um sinnvolles Verhalten möglich zu machen. Für ihn sind die Parlamente jene Orte, wo die Reduktion auf das Wesentliche stattfinden muss.
(2) Hier ist interessant, dass Schäuble das Prinzip der Repräsentation eindeutig gegen die Forderung nach Repräsentativität abgrenzt. Da sich — aus rein praktischen Gründen — die reale Vielfalt der Bürger nicht 1-zu-1 in einem Parlament abbilden lässt, leitet er daraus ab, dass Repräsentation rein formal interpretiert werden muss: der gewählte Vertreter repräsentiert nicht einzelne, spezielle Gruppen, sondern ‚das ganze Volk‚. Er formuliert dazu „Sie [die Abgeordneten des Bundestages] vertreten die Repräsentierten nicht durch ihre Person, sondern durch ihre Politik.“
(3) Schäuble entgeht allerdings nicht, dass die Politik der Repräsentanten Teile der Repräsentierten nicht mehr überzeugt. Er leitet daraus die Forderung ab, dass mehr Streit in der Mitte der Gesellschaft möglich sein muss, der zudem öffentlich im Parlament ausgetragen werden soll.
(4) Eine Ursache für die Unzufriedenheit der Wähler lokalisiert Schäuble in globalen Problemstellungen, die sich auf nationaler Ebene allein nicht lösen lassen, was indirekt auf einen größeren politischen Kontext verweist, auf Europa, dessen parlamentarische Kontrolle allerdings gestärkt werden müsse.
(5) Für die objektiv messbare Unzufriedenheit der Bürger sieht Schäuble aber nicht das Ungenügen der Parlamente als Ursache, sondern in den massiven Veränderungen in der Gesellchaft selbst. Einen solchen Aspekt der gesellschaftlichen Veränderungen sieht er gegeben in der zurück gehenden Bindungsbereitschaft an bislang vertraute Gruppierungen.
(6) Den Trend, die Unzufriedenheit der Bürger in Form von Bürgerinitiativen, Bürgerbegehren, zufällig zusammengesetzte Bürgerräte, oder Volksabstimmungen zu kanalisieren, sieht er sehr kritisch, wenig konstruktiv, eher bedrohlich.
(7) Die faktische Erweiterung von Öffentlichkeit durch das Internet, die eine Demokratisierung der Demokratie unterstützen könnte, in der jeder direkt seine Meinung kundtun kann, sieht Schäuble ebenfalls sehr kritisch: es entstehen immer mehr Teilöffentlichkeiten, die eher gegeneinander, statt miteinander funktionieren; die für eine Demokratie unerlässliche gemeinsame Öffentlichkeit zersplittere in immer mehr Fragmente. Steigende Partizipationserwartungen suchen sich immer mehr neue Wege, auch solche, die mit populistischen Mitteln den schnellen Erfolg suchen.
(8) Angesicht dieser starken Tendenzen hält er ein Plädoyer für die parlamentarische Demokratie und für das strukturelle Element der politischen Parteien, die akuten, kurzlebigen populistischen Tendenzen widerstehen können. Sein Leitmotiv drückt sich gut in der Formulierung aus: Die Demokratisierung der Demokratie macht Repräsentation nicht entbehrlich. Angesichts einer wachsenden Vielfalt geht es auch und immer mehr um Ausgleich von widerstreitenden Interessen. Parlamente sind für Schäuble Orte der Gemeinsamkeit und Orte der Verantwortung.
(9) Für Schäuble führen diese beobachtbaren Schwächen und Unzulänglichkeiten der Repräsentation zurück zu den politischen Parteien: diese müssten sich erneuern um den Tendenzen zur Individualisierung und zum Strukturwandel gerecht zu werden. Dies könne nur geschehen, wenn die Bürger mehr als bisher in die konkrete Parteiarbeit eingebunden würden, so dass die verfassungsgemäße Repräsentation funktioniere, aber in mehr lebendigem Kontakt mit den Bürgern. Dies motiviert Schäuble zu der Feststellung: „Der Weg, gesellschaftliche Vielfalt im Parlament sichtbar zu machen, führt nicht über das Wahlrecht, sondern über die Parteien.“ In den Parteien selbst brauche es Vielfalt, brauche es Toleranz, brauche es Kompromissfähigkeit; das erhöht die Attraktivität von Parteien.
(10) Nach all diesen Überlegungen hält Schäuble fest, dass „die wichtigste Aufgabe“ von politischen Parteien letztlich ist, solche Politiker*innen hervor zu bringen, die in den Parlamenten ihrer Gesamtverantwortung gerecht werden können.
GEDANKEN ZUM ARTIKEL
Auf den ersten Blick kann man diesen Artikel von Schäuble als ein engagiertes Plädoyer für die Idee eines repräsentativen Parlamentes lesen, das getragen wird, von politischen Parteien, die im Wirrwar des Alltags eine besonnene, Extreme ausgleichende Politik möglich machen, die ‚dem Volke‘ dient.
Dass es eine zunehmende Unzufriedenheit der Bürger (der ‚Repräsentierten‘) mit ihren gewählten politischen Repräsentanten gibt, nimmt Schäuble wahr; auch, dass sich der Wille zu mehr Partizipation in immer mehr Initiativen manifestiert, die an den politischen Parteien vorbei um Gehörtwerden ringen. Die vielen — z.T. ja verfassungskonformen — Partizipationsformate außerhalb der verfassten politischen Parteien werden aber von Schäuble kritisiert; in ihrer inhärenten Partikularität könnten sie den jeweiligen Gesamtzusammenhängen nicht gerecht werden. Sie seien kein Ersatz für politische Parteien und das Parlament des Bundes (die Landes, Kreis und Ortsparlamente werden von ihm nicht eigens thematisiert).
Bei den möglichen Ursachen für die Unzufriedenheit der Bürger bleibt Schäuble sparsam mit seinen Gedanken. Strukturell sieht er — sehr abstrakt — stark vernetzte global initiierte Veränderungsprozesse, die auf Deutschland und den Alltag der Bürger einwirken, die sich nur partiell rein national gestalten lassen. Das Internet sei primär ein Medium der Zersplitterung von Öffentlichkeit. Die stattfindenden gesellschaftlichen Veränderungen führten zu einer abnehmenden Bindungswilligkeit der Bürger, so dass sie sich weniger als früher den politischen Parteien anschließen wollten. Es fehlt nicht viel, die Position Schäubles so zu lesen, als ob für ihn der unzufriedene Bürger die Rolle eines ‚Schuldigen‘ einnimmt, der den Weg der Tugend, den Weg der verfassungsgemäßen politischen Parteien, aus eigenem Unvermögen nicht mehr wahrnimmt, und damit zu einer Gefahr für das System ‚repräsentatives Parlament‘ wird.
Sein entschiedenes Pläydoyer für die zentrale Rolle politischer Parteien und für das repräsentative Parlament auf der Basis der politischen Parteien liest sich auf den ersten Blick sehr ’staatmännisch‘. Auf den zweiten Blick — und vieler weiterer Blicke — ist der Weg zu einer schrillen Disharmonie nicht weit.
Wie die zahllosen Enthüllungen von — zum Glück noch vorhandenen — kritischen Journalisten und Journalistennetzwerke der letzten Jahre gezeigt haben, ist eine — vielleicht die stärkste — Ursache für die wachsende Unzufriedenheit der Bürger mit dem Parlament (und nicht nur auf Bundesebene!) nicht das mangelnde Engagement der Bürger sondern das Parlament selbst! Dass Deutschland international als Eldorado für Lobbyismus gilt; für Geldwäsche; für vielfältige Formen organisierter Kriminalität; für ein willfähriges Werkzeug der Finanzindustrie, die jährlich mit mehrstelligen Milliardenbeträgen der Steuerzahler jonglieren; für den Ausverkauf von Immobilien und Agrarflächen sorgen; für mangelnde Qualitätskontrollen in wichtigen Lebensbereichen der Bürger; für einen unübersehbaren Verfall wichtiger Infrastrukturen; für ein immer schlechter werdendes Bildungssystem, was unsere nationale Zukunft unmittelbar bedroht … und vieles mehr …, das wurzelt nicht im fehlenden Engagement der Bürger, sondern im Verhalten von Parlamentariern, die Gesetze verabschieden, die all dies mindestens zulassen, wenn nicht gar befördern oder sogar erzwingen, zumindest aber zum Missbrauch einladen. Wenn die Parlamentarier zugleich in parlamentsfremden Gremien, Institutionen, Verbänden oder Firmen sitzen, deren Interessen sie direkt in die wichtigen Ausschüsse und Gesetzesverabschiedungen hineintragen, dann ist der Bürger systemisch neutralisiert. Dies erzeugt beim aufgeklärten Bürger ein tiefgreifendes Ohnmachtsgefühl, Enttäuschung, Politikverdruss, und — hoffentlich eigentlich — eine Form von Agressivität, die dann zu einem Handeln drängt: Das darf doch gar nicht wahr sein; im Parlament verschaffen sich — ganz offensichtlich ermöglicht durch die Mehrheit der Abgeordneten — unverhohlen bürgerfremde Interessen von außen einen direkten Zugang, um sich selbst an der Öffentlichkeit vorbei ‚ganz legal‘ zu bedienen. Der Übergang vom Lobbyismus zu unverhohlenen neuen Formen ’struktureller Korruption‘ erscheint hier fließend.
Vor diesem Hintergrund erscheint das Zeigen von Schäuble auf den bindungsunwilligen Bürger, der wie ein ungezogenes Kind den ‚ordentlichen Weg‘ der politischen Parteien nicht richtig wahrnimmt, fast wie blanker Hohn. Als Präsident des Bundestages weiß Schäuble eigentlich ziemlich genau, welche Einflussnahmen auf das Parlament durch die Parlamentarier in ihren ‚multifunktionalen Interessensrollen‘ stattfinden — und wenn er es nicht wüßte, wäre er ein sehr schlechter Präsident des Bundestages — , und dass er diese vielfach bekannt gemachten Sachverhalte nicht einmal erwähnt, mit keinem einzigen Wort, erzeugt ein großes Befremden und damit eine Verstörung, eine Verunsicherung, ein mögliches Mißtrauen, ein Mangel an Glaubwürdigkeit. Die Bürger anzuklagen, ohne den leisesten Hauch von parlamentarischer Selbstkritik, das ist die schlimmste Sünde, die ein Parlamentarier begehen kann.
Natürlich ist es so, dass wir in real stattfindenden gesellschaftlichen Umbrüchen leben, die letztlich jeden Bereich der Gesellschaft betreffen, jeden Bürger (am wenigsten allerdings die ‚Reichen‘, die ‚ihre Vertreter‘ direkt im Parlament sitzen haben), nicht nur in Deutschland, sondern in allen Ländern unseres Heimat-Planeten Erde. Natürlich ist es so, dass wir diese Probleme nicht mehr einzeln, nicht mehr nur lokal lösen können; wir sind zu einem großen kooperativen Zusammenwirken herausgefordert, wollen wir nachhaltige Lösungen finden. Ganz neu ist dies nicht, aber heute ist es unabwendbar real geworden, wo sogar die Zeit erlebbar real zählt. Natürlich ist es so, dass lebendige politische Parteien, die mit dem Bürger leben, diskutieren und handeln, eine wundervolle Hilfe sein könnten, um alle zusammen in einer repräsentativen Demokratie ein Optimum an Lösungen zu ermöglichen. Dazu aber braucht es Formen von Kommunikation und Formen von Wissen, die weit über das hinaus gehen, was wir zur Zeit in Deutschland alltäglich praktizieren. Und vor allem braucht es dazu ein transparenter bürgernahes Parlament, das das Vertrauen der Bürger wahrhaft verdient.
Schäubles Gedanken sind weit entfernt von dieser zukunftsfähigen, nachhaltigen Realität. Sein Artikel ist eher geeignet das Ohnmachtsgefühl der Bürger in diesem Land weiter zu vertiefen.
Was kann man in solch einer Situation als Bürger noch tun, wenn man überzeugter Demokrat sein will? Nur wählen zu gehen reicht bei einem solchen Parlament nicht. Es ist schon längst ganz woanders, nicht beim Bürger und nicht bei den wahren Problemen dieses Landes.