Archiv der Kategorie: Wissenschaftsphilosophie

WARUM DEMOKRATIE? Mit Impulsen von Fabian Scheidler und Anne Applebaum

(Letzte Änderung: 7.Nov. 2024)

Autor: Gerd Doeben-Henisch

Kontakt: info@oksimo.org

KONTEXT

Dieser Text gehört zum Thema DEMOKRATIE.

ZUSAMMENFASSUNG

Der Text „Warum Demokratie?“ untersucht im Anschluss an die historische Perspektive aus Teil 1 des Buchs D@W (Demokratie@Work) die Bedeutung und die Herausforderungen der Demokratie aus historischer und aktueller Perspektive. Angeregt von Ideen von Fabian Scheidler wird dargestellt, dass die westliche Welt seit dem 15. Jahrhundert überwiegend durch kapitalistische und staatliche Prinzipien sowie durch Ideologien geprägt wurde, die Unterdrückung und Ausbeutung förderten, statt demokratische Werte zu verbreiten. Dieser Kolonialismus endete größtenteils erst nach dem Zweiten Weltkrieg und wurde in den ehemaligen Kolonialmächten kaum aufgearbeitet.

Die Ausbreitung demokratischer Strukturen nach dem Krieg – begleitet vom „Demokratie-Schock“ [*] und wirtschaftlichem Aufschwung – führte in vielen Ländern formal zur Demokratie. Der Zerfall der Sowjetunion und die Liberalisierung Chinas in den 1980iger Jahren verstärkten diesen Trend und befeuerten eine neue Globalisierung. Seitdem hat jedoch ein Umdenken zum Konzept ‚Kapitalismus‘ und ‚Staat‘ begonnen, mit den neuen Paradigmen Nachhaltigkeit und gemeinsame Verantwortung, um die früheren Ideologien zu ersetzen.

Gleichzeitig bestehen weltweit erhebliche Widerstände gegen diese Transformationen, unter anderem durch Kapital- und Machtinteressen, die gegen Demokratie und nachhaltige Visionen wirken, wie sie Anne Applebaum ausführlich schildert. Staaten wie Russland und China entwickeln sich zunehmend autokratisch, und auch in vielen anderen Ländern werden Demokratien durch gezielte Desinformation geschwächt, um den Wandel zu verhindern. Global findet eine immer stärkere Vernetzung von Autokraten statt.

Der Text thematisiert schließlich, dass sich die Idee einer globalen Verantwortung für den Planeten trotz ihres Potenzials noch nicht in der Gesellschaft verankern konnte und dass alte Ideologien weiterbestehen.

Warum also Demokratien? Die Frage geht in die nächste Runde.

[*] Der Ausdruck ‚Demokratie-Schock‘ wurde vom Autor neu gebildet angesichts der historischen Tatsache, dass sich ab den 1920iger Jahren in Europa und Südamerika viele neue, moderne Demokratien gebildet haben; nach dem zweiten Weltkrieg noch verstärkt! Ab den 1990iger Jahren finden sich ebenfalls viele Demokratie-Neubildungen in Afrika und Asien, wenngleich nicht so ausgeprägt (Siehe für Details Kapitel aus dem D@W Buch )

WARUM DEMOKRATIE?

In den Entwürfen zum Buch ‚Demokratie@Work‘ (D@W) wird in diesem Blog versucht, zu beschreiben, was ‚Demokratie‘ ist. Im Einleitungstext ‚Wir sind demokratisch‘ klingt aber schon an, dass eine Demokratie auf diesem Planeten weder selbstverständlich ist noch von allen als ‚erstrebenswerter Zustand‘ angesehen wird. In der Gegenwart des Jahres 2024 kann man sogar den Eindruck gewinnen, dass die noch verbliebenen Demokratien auf dem Planeten aktuell immer mehr unter Druck geraten und in Frage gestellt werden. Deswegen hier eine Zwischenüberlegung: Warum Demokratie?

IMPULS SCHEIDLER

Ein interessanter Impuls für diese Überlegungen kommt von einem Vortrag von Fabian Scheidler, den er am 18.Oktober 2024 als Einführungsvortrag der Labortagung „Künstlerische Lehre und Vermittlung in der Klimakrise“ gehalten hat. [1]

Der Titel selbst wirkt nicht unbedingt so, als ob er uns etwas zum Thema Demokratie sagen kann, und tatsächlich spielt das Thema ‚Demokratie‘ in diesem Vortrag keine zentrale Rolle, aber die Rekonstruktion der letzten Jahrhunderte unter dem Einfluss der westlichen Welt lässt die leitenden Prinzipien dieser westlichen Welt sehr klar hervor treten. Diese Prinzipien hatten nichts mit ‚Demokratie‘ im modernen Sinne zu tun, im Gegenteil. Wir begegnen in der Geschichte seit dem 15.Jahrhundert einer Welt, die von Europäischen politischen Einheiten und Nationen in einer Weise erobert, und blutig ausgebeutet wurde, die eher das krasse Gegenteil von modernen Demokratien darstellten. Später sprach man von diesen Jahrhunderten als der ‚Kolonialzeit‘ und von ‚Kolonien‘. Diese ‚Kolonialgeschichte‘ endete überwiegend erst nach dem zweiten Weltkrieg und sie wurde in fast keinem der ehemaligen Kolonialmächte bis heute ernsthaft aufgearbeitet!

Und es ist diese dunkle und blutige Geschichte der westlichen Welt, auf die jene drei großen Strukturen zutreffen, die Scheidler in seinem Vortrag eindrucksvoll herausarbeitet. (1) Das kapitalistische Prinzip mit dem Grundsatz: Kapital als Selbstzweck, ohne Rücksicht auf den Kontext. (2) Das Staatsprinzip als ‚Macht zum Erobern‘, auch ohne Rücksicht auf Kontexte. (3) Eine jeweils passende ‚Ideologie‘, die all das rechtfertigt, was da geschieht. Mit diesen Prinzipien kann man einige Jahrhunderte der Vorherrschaft des Westens (lange Zeit nur Europa!) in der Welt erklären, samt der damit einhergehenden Unterdrückung vieler Völker (Kolonialismus), und der ungehemmten Ausbeutung der natürlichen Ressourcen.

[1] Fabian Scheidler: Die Klimakrise als Zivilisationskrise, siehe: https://m.youtube.com/watch?v=39aOX-Atiew. TEXT: Der Vortrag schlägt den Bogen von den globalen Krisenprozessen unserer Zeit (Artensterben, Klima, Spaltung zwischen Arm und Reich, Krise der politischen Repräsentation, geopolitischer Umbruch, Krieg in der Ukraine und Nahost) über die Strukturen der globalen Megamaschine (endlose Kapitalakkumulation, militarisierte Staaten, westliche Vorherrschaft, ideologische Macht) über die Grenzen der Naturbeherrschung bis zur Rolle der Kultur und des Theaters in den großen Umbrüchen unserer Zeit. Dabei bezieht er sich auf die Bücher „Das Ende der Megamaschine. Geschichte einer scheiternden Zivilisation“ (https://www.megamaschine.org), „Der Stoff, aus dem wir sind. Warum wir Natur und Gesellschaft neu denken müssen“ (https://fabian-scheidler.de/der-stoff…) und „Das geistige Feld. Essentialien des Theaters“ (https://fabian-scheidler.de/buecher/#…)

DEMOKRATIE SCHOCK

Worüber Scheidler nicht spricht, das ist der ‚Demokratie-Schock‘, der nach dem Ende des zweiten Weltkriegs Europa erfasste und sich im Kontext der De-Kolonisalisierung dann auch weltweit auswirkte. [1] Staaten die zuvor Kolonialmächte oder ‚unterdrückte Länder‘ waren, übernahmen rein formal plötzlich das Format einer ‚Demokratie‘. Dieser Demokratie-Schock ging einher mit dem ‚Kalten Krieg‘ (fast nahtlos nach dem Ende des zweiten Weltkriegs) sowie wirtschaftlichem Aufschwung in einem Teil der Länder.

Das vorläufige Ende des Kalten Krieges mit dem Ende der alten Sowjetunion (ungefähr Ende der 1980iger Jahre) und die vorübergehende Liberalisierung Chinas [2] verstärkte den Demokratie-Schock, und führte die Wirtschaft global zu neuen Höhenflügen.

[1] Siehe zu dieser historischen Perspektive auch die Einleitung zum Buch D@W.

[2] Unter Deng Xiaoping (1978 – 1989) gab es im Bereich Wirtschaft eine Liberalisierung, die aber keinerlei Entsprechung auf Seiten der Kommunistischen Partei hatte. Mit Beginn des Amtsantritts von Xi Jinping (ab 2012) wurde diese Liberalisierung schrittweise zurück genommen. Die kommunistische Partei übernahm weitgehend die Kontrolle über die Wirtschaft. Siehe zum Einstieg in die Geschichte der Volksrepublik China die Seite https://de.wikipedia.org/wiki/Geschichte_der_Volksrepublik_China

TRANSFORMATION WICHTIGER PARADIGMEN – Unvollendet

Neben dem aufbrechenden Demokratieschock und einer beginnenden globalen Wirtschaft begann aber im ‚Denken‘ in mehreren Bereichen — in der Wissenschaft seit ca. 150 Jahren, in Wirtschaft und Gesellschaft seit ca. 60 Jahren ein Prozess, in dem die bisherigen Kategorien Kapital, Staat, Ideologie und Umwelt immer mehr ’neu gedacht‘ wurden.

So wurde (1) das Prinzip des ‚blinden Kapitalismus‘ seit den 1970iger Jahren zumindest im Denken ersetzt durch das Prinzip der ‚Nachhaltigkeit‘. Auf einem endlichen Planeten kann man nicht ‚unendlich‘ konsumieren und verwüsten. (2) Das Staatskonzept ‚Macht zum Erobern‘ wurde sowohl im Denken als auch in der Realität seit dem zweiten Weltkrieg ersetzt durch das Prinzip ‚demokratischer Staat‘. Die jeweils herrschende Macht sollte mehr unter Kontrolle der gesamten Bevölkerung gebracht und mit minimaler ‚Verantwortung für das Ganze‘ ausgestattet werden. Dazu auch die Gründung der ‚Vereinten Nationen‘ als gemeinsame Plattform für alle Völker. (3) Die großen ‚Ideologien der Vergangenheit‘ wurden durch die modernen Naturwissenschaften und die moderne Wissenschaftsphilosophie — zumindest in der Wurzel — ‚in der Wurzel‘ ausgerottet.

GLOBALE WIDERSTÄNDE GEGEN TRANSFORMATIONEN

Bedenkt man, wie stark und mächtig die Interessen des Kapitals sind, wie mächtig lokale Machtinteressen sein können, und wie anspruchsvoll letztlich die Realisierung einer Demokratie ist, so darf es nicht wundern, dass sich weltweit starke Widerstände gegen alle Tendenzen in Richtung mehr Demokratie oder mehr ‚Integration‘ von Wirtschaft und Gesellschaft‘ in das neue Denken geregt haben.

Der Auflösung der Sowjetunion folgte unmittelbar eine ‚Revolution von Innen‘, in der sich eine Machtelite im Umfeld von Putin Russland ‚zurückholte‘ und schrittweise in eine Autokratische Oligarchie zurück verwandelten. [1] Der kurzzeitigen Liberalisierung Chinas folge auch wieder eine zunehmende Autokratisierung mit umfassender Kontrolle aller Bürger. Viele andere Staaten weltweit folgten dem Modell von Autokratien. Die noch vorhandenen Demokratien werden von unterschiedlichen Machtzentren aus zunehmend mit falschen Erzählungen geflutet, deren Ziel darin besteht, Veränderungsvisionen (z.B. Nachhaltigkeit) zu diskreditieren, die den angestammten Interessen widersprechen. Neben den reinen Kapitalinteressen mischen sich zunehmend auch Machtinteressen ein, deren primäres Interesse die ‚Destabilisierung solcher Staaten‘ ist, die mit Demokratie und Nachhaltigkeit autokratische Systeme in Frage stellen.[2]

Die Transformation der ‚alten Ideologien‘ (fast alle Religionen im Kontext von Eroberungen) zu einer neuen globalen Sicht, die den Planeten und das Leben auf dem Planeten als eine dynamische Einheit sieht, für die alle Verantwortung tragen, diese neue Sicht hat sich noch nicht bis in den Alltag ausbreiten können, zumindest nicht in alltagstauglichen Formaten, die jeder versteht. So trifft diese neue Ideologie nicht nur auf ein breites Unverständnis, sondern die alten Ideologien leben weiter, werden weiterhin von Machtinteressen instrumentalisiert, um die eigenen Machtinteressen zu schützen.

[1] Siehe hierzu die umfassende Darstellung von Catherine Belton „Putins Netz“, 2022, HarperCollins Hamburg (Englisch: 2020)

[2] Zu diesem ganzen Komplex eine sehr informative umfassende Darstellung von Anne Applebaum, ihr Buch „Die Achse der Autokraten“, 2024, Siedler Verlag

WARUM DEMOKRATIE(en) ?

Die voranstehende Skizze zum Aufkommen von modernen Demokratien und ihre vielfachen Infragestellungen bis hin zu möglichen Auflösungserscheinungen beantworten die Frage ‚Warum Demokratie(en)‘ noch nicht wirklich. Demokratien erscheinen als ein junges, innovatives Phänomen auf der Bühne der Geschichte, das in den 2020iger Jahren deutlich unter Druck gerät. Ist es wirklich wichtig? Warum genau? Was müssen wir tun, wollen wir die Demokratien auf diesem Planeten erhalten?

Der Text dazu ist schon in Arbeit 🙂

ANWENDUNG – LEHRE

(4.November 2022 – 2.Februar 2023)

KONTEXT

Diese LEHR-Anwendung ist Teil des Themas Anwendungen.

Zum Konzept ‚Citizen Science für Nachhaltigkeit‘

Nach 5 Semestern Vorlauf unter dem Titel ‚Kommunalplanung & Gamification. Labor für mehr Bürgerbeteiligung‘ hat das Dozenten-Team Gerd Doeben-Henisch, Hans-Jürgen Schmitz und Tobias Schmitt von der Frankfurt University of Applied Sciences (FUAS) im Wintersemester 2022/23 die Lehrveranstaltung umbenannt in ‚Citizen Science für Nachhaltige Entwicklung‘. Dies erfolgte unter dem Einfluss einer intensiven Beschäftigung mit dem Thema ‚Nachhaltigkeit‘ und dem Wechselspiel mit der gesellschaftlichen Situation unter besonderer Berücksichtigung einer zunehmenden Digitalisierung gepaart mit einem stärker werdenden Einfluß von ‚Maschineller Intelligenz‘.[0]

Anwendungsperspektive

(Letzte Änderung: 2.Februar 2023)

Das Modul ‚Citizen Science für Nachhaltigkeit‘ versucht, aktuelle Strömungen der Weltgesellschaft aufzugreifen, und sie für eine Lehrveranstaltung nutzbar zu machen.

Für eine erste Orientierung sind die folgenden Begriffe von zentraler Bedeutung: ‚Nachhaltigkeit‘, ‚Empirische Theorie‘, ‚Nachhaltige Empirische Theorie‘, ‚Spiel‘ sowie ‚Citizen Science‘ (Bürgerwissenschaft).

Diese Themen werden in experimenteller Weise auf regionale Szenarien projiziert.

Nachhaltigkeit

Der Begriff der ‚Nachhaltigkeit‘ hat nicht zuletzt durch eine Serie von Konferenzen der Vereinten Nationen eine größere Bekanntheit bekommen. Am Beginn dieser Konferenzserie steht der — mittlerweile berühmte — ‚Brundtland Report‘ von 1987.[1] Im Brundtland Report hat eine internationale Kommission unter Leitung der damaligen Ministerpräsidentin Brundtland von Norwegen herausgearbeitet, unter welchen Bedingungen die Menschheit besser erkennen kann, wie eine mögliche zukünftige Welt aussehen müsste, die für alle Menschen lebenswert ist. Ein zentraler Punkt war darin, dass für die Klärung einer ‚Zukunft für alle‘ tatsächlich auch ‚alle Menschen‘ (die Bürger, Citizens) einbezogen werden müssen, da das vielfältige Wissen in der kleinen Schar der ‚institutionellen Experten‘ nicht ausreichend abgebildet wird. Hier liegt auch die Wurzel der Bedeutung des Begriffs ‚Diversity‘ (Vielfalt).[2]

Neben der ‚Diversity‘ (Vielfalt) erfordert ein ’nachhaltiges Denken‘ aber auch die Schlüsselkompetenz, auf der Basis des aktuellen Wissens ‚Voraussagen‘ (‚Prognosen‘) generieren zu können, anhand deren die Menschen zu einem bestimmten Zeitpunkt ein Stück weit in die ‚Zukunft‘ ‚voraus denken‘ können. Eine ‚mögliche Zukunft‘ existiert ja nicht als ein ‚Gegenstand‘, sondern nur in ‚unserem Denken‘ als ‚Möglichkeit‘. Denkerische Möglichkeiten sind mehr oder weniger vage, d.h. die ‚voraus gedachte Zukunft‘ muss durch den Gang der Ereignisse ‚bestätigt werden‘. ‚Vorausgesagte’/ ‚prognostizierte’/ ‚erhoffte‘ Zukunft ist daher immer mit einer gewissen ‚Unsicherheit‘ verknüpft.

(Nachhaltige) Empirische Theorie

Wenn man sich die Frage stellt, wie genau man sich das ‚Generieren einer Voraussage‘ vorzustellen hat, dann wird man auf das Konzept der modernen ‚Wissenschaft‘ verwiesen, das historisch in der Entwicklung der ‚empirischen Wissenschaft‘ gründet. Neben der ‚empirischen Wissenschaft‘ selbst, die in Europa grob im 16.Jahrhundert begann, gibt es auch von Anfang an eine philosophische Beschäftigung mit dem Thema, das gegen Ende des 19.Jahrhunderts, Anfang des 20.Jahrhunderts unter der Bezeichnung ‚Wissenschafts-Philosophie‘ bekannt wurde (in Deutschland auch gerne ‚Wissenschaftstheorie‘ genannt).

Von den vielen Namen, die hier zu nennen wären, gilt Karl Popper (1902 – 1994) als einer der populärsten Vertreter, wenngleich er von dem ‚Main Stream‘ in Wissenschaftsphilosophie deutlich abweicht. Besonders interessant ist sein ‚Spätwerk‘.[3],[4]. Einige Analysen zu Popper von Gerd Doeben-Henisch und dem Konzept einer empirischen Theorie finden sich in [5a-e].

Im Kern leistet eine empirische Theorie genau das, was man von ihr erwartet: Wenn eine Gruppe von Experten (Bürgern (Citizens)) in einem bestimmten Zeitraum in einem bestimmten Raumgebiet Beobachtungen (Messungen) vorgenommen haben, dann kann es passieren, dass sie in der Menge der Beobachtungen typische Muster (Beziehungen) identifizieren können, die sich als ‚Veränderungen‘ interpretieren lassen. Wenn solche entdeckten ‚Veränderungs-Muster‘ stabil genug sind, kann man mit diesen ‚Voraussagen’/ ‚Prognosen generieren. Diese Voraussagen müssen nach einem bestimmten transparenten Schema erfolgen. Bis zu einem gewissen Grad kann man solche Veränderungs-Muster dann auch auf die erfolgten Prognosen selbst wieder anwenden. Eine solche wiederholte Anwendung von Veränderungs-Mustern nennt man dann eine ‚Simulation.‘

Im Kontext der Nachhaltigkeit ist solch eine empirische Theorie von unschätzbarem Wert, befähigt sie doch die Bürger, zumindest eine dunkle Ahnung von der herannahenden Zukunft zu gewinnen. Allerdings, was eine empirische Theorie nicht leisten kann: sie sagt den Bürgern nicht, welche der vielen erkennbaren Möglichkeiten nun ‚erstrebenswert‘ ist und welche nicht. An dieser Stelle sind die Bürger herausgefordert, miteinander zu klären, welche der erkennbaren prognostizierten möglichen Zukünfte für sie ‚erstrebenswert‘ sind.[6]

Diese Kombination von ‚empirischer Theorie‘ und zusätzlicher Qualifikation von ‚erstrebenswerten Prognosen‘ soll hier ‚Nachhaltige Empirische Theorie‘ genannt werden.

Spiel(en) als Modell einer nachhaltigen Empirischen Theorie

Wer den Überlegungen zu ‚Nachhaltigkeit‘ und ‚Empirischer Theorie‘ soweit gefolgt ist, und wer jemals in seinem Leben ‚gespielt‘ hat, der wird sofort verstehen, dass ‚ein Spiel spielen‘ nichts anderes ist, als eine ’nachhaltige empirische Theorie‘ beispielhaft zu praktizieren. Dies sei hier kurz verdeutlicht. (Siehe auch: [11])

  1. Als Ausgangslage (IST-Situation) dienen einer empirischen Theorie empirische Daten aus einem empirischen Szenario. Im Fall eines Spiels kann dies auch ein reales Szenario sein (Übungsplatz, Fußballplatz,…), es kann aber auch ein ‚Spielbrett‘ mit ‚Spielmaterial‘ sein, oder eine Menge von Karten, oder …
  2. Als Veränderungsregel dienen in einer empirischen Theorie ‚Gesetze‚, die sprachliche Beschreibungen von Formen von Veränderungen darstellen, die bei der Erforschung von realen Szenarien gefunden wurden. Im Spiel sind dies die Spielregeln, die festlegen, wie man eine vorgegebene Spielsituation verändern darf.
  3. Die ‚Anwendung von Gesetzen‘ im Rahmen einer empirischen Theorie wird durch spezielle ‚Anwendungsvorschriften geregelt, zu der auch ein ‚logisches Folgerungsverfahren‚ gehört. Im Rahmen eines Spiels wird die Anwendung der Spielregeln im Spiel in einer Spielanleitung geregelt. Diese legt fest, wann man welche Regel wie anwenden darf, um eine aktuelle Spielsituation verändern zu dürfen.
  4. Während im Fall einer empirischen Theorie der ‚zeitliche Ablauf‘ durch die ‚empirische Realität‘ selbst geregelt ist (die empirische Welt verändert sich unabhängig von der Theorie von alleine), muss im Fall eines Spiels ein zeitlicher Ablauf künstlich hergestellt werden. Normalerweise geschieht dies durch Spielrunden, in denen alle beteiligten Akteure (die Spieler) durch Befolgung der Spielregeln im Sinne der Spielanleitung geordnet handeln. Aufgrund der Anwendung der Spielregeln wird eine neue Anordnung von Spielmaterial auf dem Spielbrett erzeugt. Dadurch entsteht eine ‚Folge von aufeinander folgenden Spielsituationen, die den Spielverlauf verkörpern. Ein Spielverlauf entspricht im Kontext einer Theorie einer Simulation (= eine wiederholte Anwendung der Gesetze).
  5. Während in einer normalen empirischen Theorie nur ‚mögliche Prognosen‘ generiert werden können ohne ‚Bewertungen‘, können Bürger mit Hilfe von möglichen Prognosen versuchen, diese zu bewerten im Sinne von ‚eher vermeiden‘ oder ‚eher anstreben‘. In dem Moment, wo Bürger eine solche ‚Klassifikation‘ von ‚möglichen prognostizierten Zukünften‘ vornehmen, versuchen sie, sich für ein nachhaltiges Verhalten zu entscheiden. In einem ‚Spiel‘ liegt genau das vor: Neben Startsituation, Spielregeln und Spielanleitung sind bestimmte ‚mögliche Zukünfte‘ als ‚Gewinnsituation‘ ausgezeichnet. Insofern eignet sich das Spielformat hervorragend zur Simulation von Nachhaltigkeitskonzepten.

Citizen Science (Bürgerwissenschaft)

Bleibt noch kurz zu erläutern, warum der Begriff ‚Citizen Science (Bürgerwissenschaft)‘ in diesem Kontext benutzt wird. Wie schon die Erläuterungen zum Begriff ‚Nachhaltigkeit‘ anklingen lassen, ist Nachhaltigkeit nur einlösbar, wenn ‚alle‘ Bürger mit ihren Erfahrungen und Wünschen beteiligt werden. Diese Beteiligung muss zusätzlich verknüpft sein mit der Anforderung, aus dem Wissen der Gegenwart ‚begründete Prognosen‘ ‚generieren zu können‘. Dies führt zum Konzept der empirischen Wissenschaft, das um die Dimension ‚Bewertung‘ ergänzt wird. Diese Kombination legt nahe, den Begriff der ‚Bürgerwissenschaft (Citizen Science)‘ neu zu prägen.

Von diesem umfassenden Konzept einer modernen Bürgerwissenschaft muss man jenes Konzept von Citizen Science abgrenzen, in dem die etablierten wissenschaftlichen Disziplinen sich der ‚Bürger‘ bedienen, um ihre Daten besser sammeln zu können.[7],[8]

Anwendung in einem Semesterkonzept

Es fragt sich, wie sich die zuvor eingeführten Konzepte ‚Nachhaltigkeit‘, ‚Empirische Theorie‘, ‚Nachhaltige Empirische Theorie‘, ‚Spiel‘ sowie ‚Citizen Science‘ (Bürgerwissenschaft) im Rahmen eines interdisziplinären Semesterprojekts praktisch nutzen lassen.[10]

Möglicher Semesteraufbau

Ein Semesteraufbau kann etwa wie folgt aussehen (Angenommen werden 8 Sitzungen mit jeweils zwei Doppelstunden):

  1. Bekanntwerden mit einem Thema (Sitzung 1)
  2. Vertraut werden mit dem Konzept ‚Theorie im Spielformat(Sitzung 2-3)
  3. Anwendung des Konzepts Spiel auf das eigene Thema (Sitzung 4-6)
  4. Testen des eigenen Spielentwurfs mit Hilfe anderer Teams (Sitzung 7)
  5. Bericht von den Ergebnissen mit Dokumentation des Spiels (Sitzung 8)

Überlegungen für eine mögliche Ausführung

In einem Kurs zur Nachhaltigkeit, in dem Teams lernen sollen, wie sie gemeinsam ein Thema nachhaltig angehen können, kommt es nicht darauf an, einen umfassenden Wissensstand zu entwickeln — was aufgrund der begrenzten Ressource Zeit praktisch nicht möglich ist — , sondern zu üben, wie ein Thema im Sinne der Nachhaltigkeit für einen nachhaltigen Handlungsprozess ‚aufgearbeitet‘ werden kann.

Dazu muss man sich klar machen, dass für ein nachhaltiges Verhalten folgende Schlüsselaufgaben gelöst werden müssen:

  1. Das Team muss sich einigen, in welchem räumlichen Bereich (Global, Kontinental, …) und für welchen Zeitraum es das vorgegebene Thema bearbeiten möchte.
  2. Das Team muss sich einigen, welche Ausgangslage (Startsituation) es für seine Analyse annehmen will.
  3. Das Team, muss sich einigen, welche Zielsituation es am Ende der gesetzten Zeitspanne ansetzen möchte.
  4. Das Team muss sich einigen, welche Art von Veränderungen es für seine Analyse akzeptiert.
  5. Das Team muss plausibel machen können, wie die angenommenen Veränderungen die Ausgangslage schrittweise in die Zielsituation überführt/ transformieren.

…. und Umsetzung in ein Spiel

Für die Umsetzung von aktuellem Wissen in ein Spiel empfiehlt sich dann ein inkrementelles Ausarbeiten. Man beginnt mit einem möglichst einfachen Szenario, das alle Elemente enthält: Ausgangslage, Spielregeln, Spielanleitung und ‚Gewinnkriterien‘ (= Ziel). Dann probiert man aus, wie diese Version Nr.0 funktioniert. Wenn man dann noch Zeit ‚übrig‘ hat und über weitere Informationen zum Thema verfügt, kann man diese erste Version Nr.0 erweitern zu Version 1. Und dies immer weiter, bis die verfügbare Zeit aufgebraucht ist.

Für potentielle ‚Spieler‘ des Spiels spielt es natürlich auch eine Rolle, ob das Spiel irgendwie ‚Spaß‘ macht, über ein Minimum an ‚Spannung‘ verfügt, und — natürlich — auch die Besonderheit des Themas erkenne lässt; letzteres verkörpert den Aspekt des Lernens.

und Testen

Für ein entwickelndes Team ist es wichtig, ein Feedback von ‚Anwendern‘ (Bürgern) zu bekommen. Im Idealfall schafft ein Team bis zur Sitzung 7 die Erstellung eines ersten spielbaren Prototyps ihres Spiels. Dann kann das Entwicklerteam sein Spiel von den anderen Teams testen lassen. Reicht die Zeit nicht aus, dann sollte mindestens ein ausgearbeitetes Konzept vorliegen, anhand dessen man abschätzen kann, wie das Spiel funktionieren würde. Dann würden die anderen Teams dieses Konzept bewerten. Mit solch einer qualifizierten Rückmeldung von ‚Anwendern‘ kann das Entwicklerteam sein Konzept/ sein Spiele-Prototyp weiter verbessern.

… Form einer Prüfung

In der Prüfung stellt das Team sein Spielkonzept vor und berichtet von seinem Lernprozess. Dazu gehört wesentlich ein Aufweis, wie die vorgegebene Problemsituation mit dem Spielkonzept und dem realisierten Spiel zusammen hängt.

Kommentare

[0] Siehe den Konferenzbericht von Gerd Doeben-Henisch (2023), REVIEW KONFERENZ: Partizipation und Nachhaltigkeit in der Digitalität, Zevedi-Konferenz des Projekts ‚Nachhaltige Intelligenz – Intelligenten Nachhaltigkeit‘, 7.-8.Dezember 2022, Fulda. URL: https://www.oksimo.org/2022/12/09/review-konferenz-partizipation-und-nachhaltigkeit-in-der-digitalitaet-7-8-dezember-2022/.

[1] UN. Secretary-General;World Commission on Environment and Development, 1987, Report of the World Commission on Environment and Development : note / by the Secretary-General., https://digitallibrary.un.org/record/139811 (accessed: July 20, 2022) (In einem besser lesbaren Format:  https://sustainabledevelopment.un.org/content/documents/5987our-common-future.pdf) Anmerkung: Gro Harlem Brundtland (ehemalige Ministerpräsidentin von Norwegen) war die Koordinatorin von diesem Report.(Dieser Text enthält die grundlegenden Ideen für alle weiteren UN-Texte)

[2] Der Aspekt ‚Diversity‘ spiel außerdem seit ca. 3.5 Milliarden Jahre eine fundamentaler Rolle bei der Entwicklung des Lebens auf dem Planet Erde.

[3] Karl Popper, „A World of Propensities“,(1988) sowie „Towards an Evolutionary Theory of Knowledge“, (1989) in: Karl Popper, „A World of Propensities“, Thoemmes Press, Bristol, (1990, repr. 1995)

[4] Karl Popper, „All Life is Problem Solving“, Artikel, ursprünglich ein Vortrag 1991 auf Deutsch, erstmalig publiziert in dem Buch (auf Deutsch) „Alles Leben ist Problemlösen“ (1994), dann in dem Buch (auf Englisch) „All Life is Problem Solving“, 1999, Routledge, Taylor & Francis Group, London – New York

[5a] Gerd Doeben-Henisch, „WISSENSCHAFT IM ALLTAG. Popper 1988/1990“, Journal: Philosophie Jetzt – Menschenbild, ISSN 2365-5062, 21.Februar 2022, URL: https://www.cognitiveagent.org/2022/02/16/wissenschaft-im-alltag-popper-1988-1990/

[5b] Gerd Doeben-Henisch, „WISSENSCHAFT IM ALLTAG. Popper 1989/1990“, Journal: Philosophie Jetzt – Menschenbild, ISSN 2365-5062, 21.Februar 2022, URL: https://www.cognitiveagent.org/2022/02/19/wissenschaft-im-alltag-popper-1989-1990/

[5c] Gerd Doeben-Henisch, „WISSENSCHAFT IM ALLTAG. Popper 1991/1994 (1999)“, Journal: Philosophie Jetzt – Menschenbild, ISSN 2365-5062, 21.Februar 2022, URL: https://www.cognitiveagent.org/2022/02/21/wissenschaft-im-alltag-popper-1991-1994-1999/

[5d] Gerd Doeben-Henisch, „POPPER – Objective Knowledge (1971). Summary, Comments, how to develope further“, eJournal: uffmm.org, ISSN 2567-6458, 07.March 22 – 12.March 2022, https://www.uffmm.org/2022/03/09/popper-objective-knowledge-1971-summary-comments-how-to-develope-further/

[5e] Gerd Doeben-Henisch, „POPPER and EMPIRICAL THEORY. A conceptual Experiment“, URL: eJournal: uffmm.org, ISSN 2567-6458, 12.March 22 – 16.March 2022, URL: https://www.uffmm.org/2022/03/12/popper-and-empirical-theory-a-conceptual-experiment/

[6] Im Jahr 2022 gilt es z.B. als erstrebenswert, die allgemeine Erhöhung der Erderwärmung unter 1.5 oC zu halten, oder die Biodiversität zu schützen, oder …

[7] Aya H.Kimura and Abby Kinchy (2016), Citizen Science: Probing the Virtues and Contexts of Participatory Research. In: Engaging Science, Technology, and Society 2 (2016), 331-361, DOI:10.17351/ests2016.099 (Den Hinweis auf diesen Artikel bekam ich von Athene Sorokowski)

[8] Warren Weaver, Science and the Citizens, Bulletin of the Atomic Scientists, 1957, Vol 13, pp.361-365. (Den Hinweis auf diesen Artikel bekam ich von Philipp Westermeier) Warren Weaver — einer der führenden Wissenschaftspromotoren in den USA der 50iger Jahre — hat darauf aufmerksam gemacht, dass die Ursprünge der modernen Wissenschaft in einer quasi ‚Bürgerbewegung‘ im England des 16.Jahrhunderts zu finden sind. Die Aktivitäten dieser Bürgerbewegung führte dann zur späteren ‚Royal Society‘, gegründet 1660 in London; mittlerweile ist diese die älteste wissenschaftliche Gesellschaft der Welt. Weaver macht weiterhin darauf aufmerksam, dass wir in der Gegenwart eine ‚Entfremdung‘ zwischen den sich immer mehr vereinzelnden wissenschaftlichen Disziplinen (man spricht sogar schon von ‚Wissenschafts-Silos‘) und den Bürgern einer Gesellschaft feststellen kann. Eine lebendige Demokratie braucht aber eine lebendige interaktive Beziehung zwischen den Bürgern und der Wissenschaft. Dies erfordert neue Kommunikations- und Wissensformen.

[9] Gerd Doeben-Henisch, (2023), REVIEW KONFERENZ: PARTIZIPATION UND NACHHALTIGKEIT IN DER DIGITALITÄT, 7.-8.DEZEMBER 2022, URL: https://www.oksimo.org/2022/12/09/review-konferenz-partizipation-und-nachhaltigkeit-in-der-digitalitaet-7-8-dezember-2022/

[10] Neuauflage des Moduls ‚Citizen Science für Nachhaltige Entwicklung‘ im SS2023 an der Frankfurt University of Applied Sciences.

[11] Hinweis auf eine Strukturelle Äquivalenz zwischen den Konzepten ‚Nachhaltige Empirische Theorie‘, ‚Spiel‘, und ‚Theaterstück‘ von Gerd Doeben-Henisch, 2023, NACHHALTIGE EMPIRISCHE THEORIE – VERSCHIEDENE FORMATE: THEORIE – SPIEL – THEATERSTÜCK, URL: https://www.oksimo.org/2022/12/14/nachhaltige-empirische-theorie-verschiedene-formate/ .