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EINWOHNER: Wie alles anfing. Ein Gespräch mit dem Vorsitzenden des Ausländerbeirats Schöneck

(Letzte Änderung: 14.März 2024)

Autor: Gerd Doeben-Henisch

Kontakt: big@oksimo.org , Betreff ‚EINWOHNER‘

KONTEXT

Dieser Text gehört zum Themenbereich DEMOGRAPHIE : STRUKTUR & ENTWICKLUNG DER EINWOHNER VON SCHÖNECK/ MKK .

Ein Gespräch mit dem Vorsitzenden des Ausländerbeirats Schöneck

Der Mann mit dem Koffer

Bei einer Kundgebung in Schöneck am 17.Febr 2024 trat ein Mann mit einem Koffer, Kerzen, und einem großen Blumenstrauß auf. Statt eine politische Rede zu halten erzählte er eine Geschichte, die Geschichte von dem Brief an alle Mitbürger in Hessen mit einem Migrationshintergrund, dass Sie sich am Mo 19.2.2033 am Frankfurter Flughafen einfinden sollten mit dem Ziel, in ihre Herkunftsländer zurück zu reisen. Und in dieser Geschichte taten Sie alle dies: sie brachen auf und versuchten zum Flughafen zu reisen. Aus Schöneck waren dies ca. 3000 Mitbürger aus 90 Nationen, fast ein Viertel aller Bürger von Schöneck. Lokale mussten schließen, Geschäfte ebenfalls, Dienstleistungen gab es nicht mehr, und die Fahrt zum Flughafen wurde zum Problem: nahezu das ganze Personal von Bussen, S-Bahn, U-Bahn, Eisenbahn … sie alle reisten auch ab. Und am Flughafen — wer ihn denn erreichte — ging auch nichts mehr. Schalter waren nicht mehr besetzt, die Infrastruktur im Flughafen, stand still, nichts ging mehr … Dazwischen legte er die Blumen am Friedhof Schöneck nieder und zündete die Kerzen an für die ermordeten Migranten.

Allen Zuhörer wurden schnell klar, dass diese humorvolle Geschichte ein sehr ernstes Thema enthielt: eine sich langsam ausbreitende Stimmung in manchen Schichten der Bevölkerung gegen ‚zu viele Ausländer‘. Das Unwort ‚Remigration‘ hat leider erste Spuren hinterlassen.

Konfrontiert mit dieser Geschichte hat vielleicht so mancher für sich festgestellt, dass er gar kein so klares Bild von der Zusammensetzung der Einwohner in seiner Kommune, im Landkreis, im Land Hessen und gar in ganz Deutschland hat. Und so auch der Autor dieses Textes.

Ich habe dann einen Tag später diesen ‚Mann mit dem Koffer‘, Klearchos Aliferis, den Vorsitzenden des Ausländerbeirats Schöneck, per Mail angefragt, ob ich Ihn für BiG interviewen könne. Ich wollte mehr wissen. Glücklicherweise hat er sehr positiv reagiert und wir fanden uns dann am So 25.Febr 2024, um 15h zu einem Interview zusammen, das dann tatsächlich fast mehr ein Gespräch war denn ein klassisches Interview. Wir haben das gesamte Gespräch auch aufgenommen.

MIGRANTENKIND

Herr Klearchos Aliferis ist ein Migrantenkind in der 2.Generation . Die Eltern sind unabhängig voneinander in den 1960iger Jahren im Rahmen von Gastarbeiterverträgen aus Griechenland nach München ausgewandert. Vater bei Fa. Metzeler, Mutter bei der Fa. Siemens. Beide lernten sich in München kennen, heirateten und Herr Aliferis kam 1969 dort zur Welt. Er wuchs in München auf. Studierte an der LMU (Ludwig-Maximilian Universität) Betriebswirtschaftslehre, wechselte dann aber nach Lüneburg, um dort seine Perspektive zu erweitern mit Wirtschaft und Sozialwissenschaften. Dort machte er auch Bekanntschaft mit dem Fach Industriepsychologie, das er dann im weiteren Verlauf vertiefen konnte. Nach dem Studium kam er zur Europäischen Kommission und zwar zum Institut für Schiffsbetrieb, Simulation und Seeverkehr in Hamburg. Das jugendliche Traumziel, Kapitän zu werden, wurde auf diese Weise zwar nicht erreicht, er war aber ‚gefühlt‘ der See sehr nahe :-). Herr Aliferis lernte dort im Studium auch seine Frau kennen, auch eine Migrantin der 2.Generation. Seine Frau ist Lehrerin. Ihr Vater war schon in den 1950iger Jahren aus dem Iran gekommen, hatte in Tübingen Medizin studiert, lernte dort seine Frau kennen , und hat sich dann in Ostfriesland niedergelassen.

2000 wechselte Herr Aliferis dann von der Forschung zum Flughafen in Frankfurt am Main. 2005 kamen sie dann nach Schöneck. Sie haben zwei Söhne die mittlerweile 16 und 19 Jahre alt sind. Der Ältere macht gerade sein Abitur.

AUSLÄNDERBEAUFTRAGTER

Seit 2006 hat Herr Aliferis den Vorsitz im Ausländerbeirat in Schöneck und er sagte, dass für ihn das Thema Migration erst seitdem so richtig ins Bewusstsein trat. Als Kind kannte er das gar nicht. Während seiner Kindheit und Jugend in den 1970igern in Bayern wurde man quasi integriert, ohne dass darüber gesprochen wurde; man war einfach Teil des Alltags wie alle anderen auch.

AUSLÄNDER, GASTARBEITER, FLÜCHTLINGE …

GASTARBEITER

(Vergleiche zum Folgenden ergänzend auch [1])

Im Gespräch traten dann immer mehr Aspekte des Themas Migration hervor. Ausgelöst durch die Diskussionen seit 2005 wurde Ihm langsam bewusst, dass das Thema ‚Ausländer‘ in Deutschland spätestens seit den 1960iger Jahren eine Realität besaß. Aufgrund des Wirtschaftswunders in Deutschland in den 1950iger Jahren fehlten plötzlich überall Arbeitskräfte. Beginnend mit der 1950iger Jahre mit Italien schloss die Bundesrepublik mit immer mehr Ländern des Südens Anwerbeabkommen. Der millionste Gastarbeiter 1964 wurde sogar vom damaligen Bundesinnenminister begrüßt und bekam ein Moped als Geschenk. Alle gingen damals von einem befristeten Aufenthalte aus, deshalb Gast-Arbeiter. An Integration dachte niemand. Als es dann 1973 wegen Schwächen in der Wirtschaft zu einem Anwerbestopp kam, begannen sich viele Gastarbeiter umzuorientieren. Von den 14 Mio Gastarbeitern, die bis 1973 nach Deutschland gekommen waren, sind 11 Mio wieder zurück in ihre Heimatländer gegangen, der Rest wurde einfach ‚Bürger‘; von ‚Gastarbeiter‘ redet heute niemand mehr.

EUROKRISE

Zwischendurch gab es unterschiedliche Ereignisse. Herr Aliferis erinnerte an die Eurokrise (ca. 2010 -2013) in deren Zusammenhang südliche Länder (Griechenland, Italien, Spanien, Portugal) wegen ihrer Schulden die Diskussion in Deutschland befeuerte, bis dahin, dass gefragt wurde, ob diese Ländern noch zur Euro-Zone gehören können.

EIN-/AUSWANDERUNG

(Vergleiche zum Folgenden ergänzend auch [2])

Es gab bis 2010 schon immer eine Einwanderung nach Deutschland, wie auch eine Auswanderung. Erst ab 2010 nahm der Anteil der Zuwanderung aber stärker zu. Bedenklich war, dass es im Fall er Auswanderung vor allem jüngere und überdurchschnittlich qualifizierte Menschen waren, die auswanderten. So war das Verhältnis 2018 schon sehr bemerkenswert: Es gab 1,6 Millionen Zuwanderer gegenüber 1,2 Millionen Auswanderern. Während die Regierung in den 1950iger und 1960iger Jahren direkte Anwerbeabkommen mit verschieden Ländern geschlossen hatte, verabschiedete sie im März 2020 ein Fachkräftezuwanderungsgesetz, um die die Anwerbung von Fachkräften aus dem Ausland zu verstärken.

Mit der Zunahme der Einwanderung verstärkte sich die Vielfalt deutlich: kamen damals ca. 75% der Gastarbeiter aus nur fünf Ländern ( Italien, Spanien, Griechenland, Türkei und Jugoslawien), waren es 2020 schon 80 Herkunftsländer (in Stuttgart und Frankfurt waren es seit den 2000er Jahren konstant sogar schon immer um die 170 verschiedene Länder!). Die höchsten Ausländeranteile hatten 2020 Frankfurt mit 30,3% und Offenbach mit 41,8% . Aus dieser Vielfalt resultieren große Schwierigkeiten in vielen Bereichen, besonders im Bildungsbereich.

FLÜCHTLINGSKRISE 2015/16 UND DIE FOLGEN: Mit Migrationshintergrund

(Vergleiche zum Folgenden ergänzend auch [3])

Im Rahmen der allgemeinen Einwanderung/Auswanderung nahm die Flüchtlingswelle 2015/2016 eine Ausnahmestelle ein, zumal sie ganz Europa berührte und die letztlich bis heute nicht wirklich zum Stillstand kam. Zugleich wächst die Erkenntnis, dass diese Form einer unkontrollierten Migration eine Gesellschaft real destabilisieren kann, wenn es nicht gelingt, sie entsprechend zu gestalten. Der weiterhin anhaltende und sich verschärfende Bedarf an qualifizierten Arbeitskräften wird überlagert durch den zunehmenden Zustrom von wenig bis kaum qualifizierten Menschen mit unterschiedlichsten kulturellen Hintergründen. Seit 2005 [5,5b] hat das Wort Integration Eingang in die Politik gefunden. Spätestens seit der großen Flüchtlingswelle 2015/16 wird Integration aber zu einem großen brennenden Thema. Eine eindeutige Definition ist aber bis heute nicht zu finden.

Als außergewöhnliches Ereignis, was die Gesellschaft stark betroffen hat, ist auch die Covid-19-Pandemie 2020-2023 in Deutschland zu berücksichtigen.[6]

Ebenfalls die ungewöhnlich hohe Inflationsrate in Deutschland [7]

8,673,210,37
2022 – 2021 – 2020

Ein zusätzlicher Faktor für das Thema Migration bildet der Ukraine-Krieg, der eine eigene Migrationsbewegung erzeugte. [4a,b]

In diesem Zusammenhang machte Herr Aliferis darauf aufmerksam, dass in den letzten Jahren die neue Formulierung ‚mit Migrationshintergrund‘ den Unterschied zwischen jenen, die nach Deutschland kamen, um zu arbeiten und die sich letztlich über den Alltag voll integriert haben (immer mehr haben zudem auch einen Deutschen Pass; Herr Aliferis hat ihn seit 2018/19, obwohl er 1969 in München geboren wurde), und jenen die als Flüchtlinge kamen, als Migranten:innen, verwischt! Der wachsende Widerstand in den europäischen Ländern — auch Deutschland — gegen die unkontrollierte Migration überträgt sich durch die neue Formulierung ‚mit Migrationshintergrund‘ fast unbemerkt auch auf die gewollte Zuwanderung, auf jene Menschen, die die Deutsche Gesellschaft dringend braucht.

FRAGEN, DIE SICH STELLEN

Bis zu diesem Punkt im Gespräch zeigten sich immer mehr Aspekte des großen Themas Ausländer in Deutschland, die dazu motivieren, das ganze Thema doch vielleicht viel mehr zu differenzieren, als es bislang geschieht. Nicht beruhigend wirkt der Umstand, dass die Bevölkerungsproblematik mit dem Teilaspekt Migration sich über viele Jahre, ja Jahrzehnte erstreckt, begleitet mit vielfältigen Auswirkungen in unterschiedlichen Bereichen der Gesellschaft. Die Politik aber wirkt durch die kurzen Wahlperioden von vier Jahren verglichen damit wie eine ‚Getriebene‘, deren Handlungen eher an ‚Aktionismus‘ erinnern statt an ‚weitsichtiges strategisches Handeln‘. Idealerweise gäbe es in den Ministerien Experten:innen, die über die kurzen Wahlperioden hinaus zu den verschiedenen Themen strategisch Wissen und Erfahrungen aufbauen, das ein echtes strategisches Verhalten ermöglicht. Doch die letzten Jahre erwecken eher den Eindruck, dass die Ministerien immer mehr zu kurzfristigen politischen Werkzeugen instrumentalisiert werden. Zu beachten: das nicht ganz unwichtige Thema der anhaltenden Auswanderung tritt gegenüber dem Migrationsthema fast ein wenig in den Hintergrund.

Und, was vielen noch kaum bewusst ist: die Attraktivität von Deutschland als Arbeitsmarkt hat schon stark gelitten. Während früher die Menschen gerne nach Deutschland kamen überlegen sich jetzt viele dreimal, ob sie nach Deutschland kommen sollen: Mobbing im Land und fremdenfeindliche Parolen wirken schon jetzt als eine Bremse, die für unser Land schon jetzt gefährlich sind. Wenn in solch einer schwierigen Situation Mitglieder einer politischen Partei öffentlich verkünden, wir könnten in Deutschland locker auf ein Drittel der Bevölkerung verzichten — oder sogar von Deportationen sprechen –, dann sollten überall die Alarmglocken schrillen; damit würden wir Deutschland voll an die Wand fahren. Welcher Mensch, der Deutschland liebt, kann so etwas ernsthaft wollen?[8]

Was sollte man tun?

Je länger das Gespräch dauerte, umso mehr Aspekte des Themas wurden sichtbar und es war auch klar, dass man alle diese Themen im Gespräch nicht ausreichend behandeln konnte.

Es entstand aber der Wunsch auf beiden Seiten, dem Thema weiter nach zu gehen und das Gespräch auch zu öffnen für viele andere Bürger. Das Thema betrifft uns alle sehr direkt, besitzt eine große gesellschaftliche und politische Sprengkraft, und es sollte unser aller Interesse sein, an einer Beantwortung der offenen Fragen mit zu wirken.

Beide Gesprächsteilnehmer fassten den Beschluss, das Gespräch — auch öffentlich — fortzusetzen.

ERGÄNZENDE QUELLEN

Abkürzung: wkp-de: Deutsche Wikipdia (de.wikipedia.org)

[1] WDR-online, Planet Wissen: Von Gabriele Trost und Malte Linde, Gastarbeiter. Thema: In den 1950er-Jahren fehlten in Deutschland Arbeitskräfte, deshalb warb die Regierung im Ausland Arbeitnehmer an. Die meisten wollten eigentlich später in ihre Heimat zurückkehren. Doch viele blieben für immer., URL: https://www.planet-wissen.de/geschichte/deutsche_geschichte/geschichte_der_gastarbeiter/index.html

[2] WDR-online, Planet Wissen: Von Alexandra Stober, Migration in Deutschland. Thema: Zuwanderer und ihre Nachfahren prägen die Gesellschaft Deutschlands: Millionen von ihnen kamen in der Nachkriegszeit als so genannte „Gastarbeiter“ in die Bundesrepublik und blieben für immer. Auch Flüchtlinge und Spätaussiedler ließen sich nieder, URL: https://www.planet-wissen.de/geschichte/deutsche_geschichte/migrationsland_deutschland/index.html

[3] Flüchtlingskrise in Deutschland 2015/2016 in wkp-de, https://de.wikipedia.org/wiki/Fl%C3%BCchtlingskrise_in_Deutschland_2015/2016 (Sehr ausführlich!)

[4a] Ukraine-Krieg, Flüchtlinge in Deutschland ,destatis.de, 2022, https://www.destatis.de/DE/Im-Fokus/Ukraine/Gesellschaft/_inhalt.html Anmerkung: Sehr ausführliche Statistiken mit Erläuterungen!)

[4b] Ukraine-Krieg, Flüchtlinge in Deutschland ,destatis.de, 2023, https://www.destatis.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/2024/02/PD24_065_12411.html

[5] Integration von Zugewanderten, wkp-de: https://de.wikipedia.org/wiki/Integration_von_Zugewanderten, siehe besonders: [5b] https://de.wikipedia.org/wiki/Integration_von_Zugewanderten#Deutschland

[6] Covid-19-Pandemie in Deutschland, Jan 2020 – Mai 2023, wkp-de, https://de.wikipedia.org/wiki/COVID-19-Pandemie_in_Deutschland

[7] Inflationsraten weltweit und Deutschland 2017 – 2022, wkp-de: https://de.wikipedia.org/wiki/Liste_der_L%C3%A4nder_nach_Inflationsrate

[8] Anteil Deutscher mit Migrationshintergrund 2022, differenziert nach Umständen, destatis: https://www.destatis.de/DE/Presse/Pressemitteilungen/2023/04/PD23_158_125.html