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REVIEW KONFERENZ: PARTIZIPATION UND NACHHALTIGKEIT IN DER DIGITALITÄT, 7.-8.DEZEMBER 2022 – KONFERENZBEITRÄGE – Schrader – Statement 8.Dez2022

(Letzte Änderung: 4.Januar 2023)

Redakteur: Gerd Doeben-Henisch (gerd@oksimo.org)

Kontext

Dieser Text ist ein Statement von Prof. Dr. Christian Schrader zum Teil 1 der Konferenz vom 8.Dez.2023. Der Text von Prof. Schrader wurde mit seiner Genehmigung unverändert übernommen.

Blick zurück: Akten als bürokratisches Prinzip

Die deutsche Verwaltung ist noch im Sinne der Bürokratiemerkmale Max Webers geprägt: Akten, Schriftlichkeit, Geheimhaltung.

Das Schreibbüro gibt es in aller Regel nicht mehr, aber die Schriftlichkeit, der Aktenbock und die Geheimhaltung internen Wissens existieren weiter.

Auflockerungen seit den 1990er Jahren haben Veränderungen, aber keine Abkehr gebracht.

Auflockerungen der Geheimhaltungskultur lassen sich unter anderem an einigen Gesetzen festmachen: Umweltinformationsgesetz, Informationsfreiheitsgesetz, Onlinezugangsgesetz.1

Öffentlichkeitsbeteiligung gab es in Zulassungsverfahren schon vor den Zeiten von Max Weber. Bislang strittig ist aber, warum sie durchgeführt wird: Ausgleich für den Rechtsverlust, der mit der Genehmigung eintritt? Rechtsschutz durch Verfahren? Verbesserung der Entscheidung der Behörde? Anerkennung einer pluralistischen Gesellschaft?

Wegen der ungeklärten Ziele ist die Öffentlichkeitsbeteiligung seit langem je nach Betrachter überflüssig oder unerlässlich.

1 Guckelberger/Starosta, Die Fortentwicklung des Onlinezugangsgesetzes, NVwZ 2021, 1161.

Blick nach vorn: Digitalisierung zur Beschleunigung?

Zurückliegende Beschleunigungsvorhaben können teils als Versuch gesehen werden, eine pluralistische Gesellschaft wieder eindimensionaler zu sehen.

Ist jetzt Digitalisierung als Mittel zur Partizipation für alle? Was ist das Ziel der Teilhabe? Mit-Entscheidung durch alle? Oder Mit-Wirkung an einem staatlich organisierten Verteilungsprozess von Freiheit? Ist gesetzgeberisch Beschleunigung überhaupt erreichbar, wenn seit 1985 eine große Anzahl von Gesetzen mit Beschleunigung im Titel erlassen wurde?1

Nicht aufgenommen in die Diskussion ist, warum Öffentlichkeitsbeteiligung aus Sicht der Nachhaltigen Entwicklung notwendig ist. Ein neuer Ansatz könnte sein, die Nachhaltige Entwicklung einzubeziehen.

Nachhaltige Entwicklung geht davon aus, dass die langfristige Sicherung der natürlichen Lebensgrundlagen bedroht ist. Zu ihrer weiteren Entwicklung ist es wichtig, die von Projekten Betroffenen mit einzubeziehen. Hier sind die die sogenannte ökologische und soziale nachhaltige Entwicklung miteinander verbunden. Dieser Zusammenhang stützt die Öffentlichkeitsbeteiligung dagegen, im Zuge der Beschleunigung ökonomischer Projekte oder von Klimaschutzprojekten fallen gelassen zu werden.

1 Groß, Beschleunigungsgesetzgebung – Rückblick und Ausblick, ZUR 2021, 75; rückblickend auch Roth, Planungs- und Genehmigungsbeschleunigung, ZRP 2022, 82.

Blick auf den Stand heute: Überfällige Aufnahme digitaler Elemente in ein weiterhin bürokratisches Konzept

Weiterhin heutige Realität: digitalisierte Zulassungsunterlagen werden im Verfahren ausgedruckt, um verarbeitet werden zu können. Erst zögernd werden etwa im Baurecht interoperable Datenformate für verbindlich erklärt. Auch deshalb gilt Öffentlichkeitsbeteiligung als schwerfällig.1

In der Corona-Pandemie war physische Distanz ein wichtiges Mittel. Damit war eine Öffentlichkeitsbeteiligung, die auf den Gang zur Auslegungsstelle und auf die Einsicht in gedruckte Unterlagen setzt, nicht mehr durchführbar. Das Ende Mai 2020 in Kraft getretene und bis Ende 2023 verlängerte Plansicherstellungsgesetz sollte die Verfahrensvorgänge von 23 Gesetzen vom physischen in den digitalen Raum verlagern.2 Es enthält Modifikationen für die Bekanntmachung, die Auslegung von Unterlagen, für die Erklärungen zur Niederschrift bei einer Behörde bis hin zur Durchführung der Erörterungstermine, mündlichen Verhandlungen und Antragskonferenzen durch sogenannte Onlinekonsultationen. Allerdings sind es nur Modifikationen und damit ein eher komplexes System von teilweisem Nebeneinander physischer und digitaler Formate.3 Praktisch geworden etwa beim Tesla-Werk in Brandenburg und einer Vielzahl weiterer Verfahren. Bislang der praktisch am häufigsten anzutreffende Fall ist die Zurverfügungstellung der Stellungnahmen und Einwendungen sowie Gegenstellungnahmen des Vorhabenträgers im Wege der Einstellung der Einwendungsmatrix, teilweise thematisch gegliedert (sog. Clustering), in das Internet.4 Dem folgt meist dann die sogenannte Onlinekonsultation.

Onlinekonsultationen sind aber nicht etwa Videokonferenzen mit Chat-Funktion, sondern eine Möglichkeit, sich zu vorliegenden Unterlagen innerhalb einer angemessenen Frist digital äußern zu können. Es fehlt also die dialogische Kommunikation, es fehlt ein mehrfacher Austausch von Reaktion und Gegenreaktion. In der Sache ist nur eine Kommentierung vorhandener Unterlagen möglich.

Allerdings soll die Zurverfügungsstellung vorliegender Unterlagen in einem geordneten Dokument Synergie-Effekte für die anschließende Erarbeitung der Entscheidung haben.5 Als maßgebliche Herausforderung wird bezeichnet, entweder bei den betreffenden Behörden eine leistungsfähige IT-Struktur zu entwickeln, vorzuhalten und zu pflegen oder geeignete Dienstleister zur Umsetzung dieses Prozesses zu finden.6

Entgegen den vielen früheren Beschleunigungsgesetzen ist mit Bündnis 90/Die Grünen eine Partei in der Regierung und für eine vehemente Beschleunigung,7 deren Klientel sich früher eher gegen Großvorhaben eingesetzt hat.8 Fehlt damit der politische Rückhalt für Bürgerbeteiligung?

Die Bundesregierung hat 2022 bereits einige Beschleunigungspflöcke gesetzt. Ein Osterpaket enthält ein umfangreiches Maßnahmenbündel.9 Das Gesetz zur Beschleunigung des Einsatzes verflüssigten Erdgases (LNGG)10 hat in Wilhelmshaven in Rekordzeit zu einem LNG-Terminal geführt. Hier ist es möglich, dass im Rahmen der UVP die Öffentlichkeit nur informiert wird, aber ohne eine Möglichkeit der Äußerung oder Erörterung, § 5 LNGG. Die Beteiligung im Rahmen des BImSchG-Verfahrens ist verkürzt auf zwei Wochen (je eine Woche Auslegungs- und Einwendungsfrist) und der Erörterungstermin ist nicht mehr zwingend, sondern steht im Ermessen der Behörde.11 Ferner kann der vorzeitigte Beginn vor der Beteiligung der Öffentlichkeit zugelassen werden, § 6 LNGG. Wenn dieses nur für bestimmte Anlagen, Anlage zu § 2 Abs. 2 LNGG, geltende Gesetz ausgeweitet würde hätte dies substantielle Folgen für die Öffentlichkeitsbeteiligung.

Die Bundesregierung legte im Juli 2022 Eckpunkte vor zu „Digitalisierung vorantreiben – Planung und Genehmigung beschleunigen“.12 Sie benennt darin priorisierende Digitalisierungsmaßnahmen zur Umsetzung und Weiterentwicklung des Onlinezugangsgesetzes (OZG) und zielt auf die Schaffung eines effizienten Datenaustausches zwischen Behörden mittels funktionierender IT-Schnittstellen. Die Ziele des OZG werden jedoch weit verfehlt.

In Zeiten nach Corona und während des Ukraine-Krieges werden andere Prioritäten diskutiert. Verfassungsrechtlich wird ausgerechnet das Klimaschutzgebot des Art. 20a GG für eine starke Beschleunigung angeführt.13

Verwaltungsrechtlich wurde ein überragendes öffentliches Interesse an den neuen Vorhaben eingeführt. Dessen rechtliche Reichweite ist noch nicht abschließend diskutiert.14 Ob es über die materiellrechtlichen Folgen in Abwägungsprozessen hinaus auch verfahrensrechtlich zugunsten von Beschleunigung wirkt muss diskutiert werden.

1 Burgi/Nischwitz/Zimmernann, Beschleunigung bei Planung, Genehmigung und Vergabe, NVwZ 2022, 1321 (1325).

2 Wormit, Die Digitalisierung der Öffentlichkeitsbeteiligung unter dem neuen Plansicherstellungsgesetz, DÖV 2022, 1026; Dammert/Brückner, Lehren aus dem PlanSiG, EnWZ 2022, 111.

3 Ruge, Das Planungssicherstellungsgesetz (PlanSiG) – Digitalisierung der Öffentlichkeitsbeteiligung von Planungsverfahren in der COVID-19-Pandemie, ZUR 2020, 481 (486).

4 Dammert/Brückner, Lehren aus dem PlanSiG, EnWZ 2022, 111 (113).

5 Dammert/Brückner, Lehren aus dem PlanSiG, EnWZ 2022, 111 (113).

6 Dammert/Brückner, Lehren aus dem PlanSiG, EnWZ 2022, 111 (113).

7 Zu den Maßnahmen der Koalitionsvereinbarung: Roth, ZRP 2022, 82 (83 ff.).

8 Burgi/Nischwitz/Zimmernann, Beschleunigung bei Planung, Genehmigung und Vergabe, NVwZ 2022, 1321 (1322).

9 Schlacke/Wentzien/Römling: Beschleunigung der Energiewende: Ein gesetzgeberischer Paradigmenwechsel durch das Osterpaket?, NVwZ 2022, 1577.

10 Schlacke/Wentzien/Römling: Beschleunigung der Energiewende: Ein gesetzgeberischer Paradigmenwechsel durch das Osterpaket?, NVwZ 2022, 1577 (1585).

11 Schütte/Winkler, Aktuelle Entwicklungen im Bundesumweltrecht, ZUR 2022, 440 (443 f.).

12 BT-Drs. 20/2715. Der dort benannte Beschleunigungseffekt des OZG, dass sich Antragsteller schneller authentifizieren können, dürfte jedoch marginal sein. Das für das Eckpunktepapier verantwortliche Ressort Verkehr und Digitales ist nicht zuständig für Zulassungsverfahren und dürfte lediglich das politische In-Wort Beschleunigung für sich angeeignet haben. Bezeichnend für den derzeitigen IT-Stand ist, dass für 2023 ein digitales Einwendungsmanagementsystem angekündigt wird, um die Kommunikation schnittstellenfrei abzubilden.

13 Burgi/Nischwitz/Zimmernann, Beschleunigung bei Planung, Genehmigung und Vergabe, NVwZ 2022, 1321 (1322 f.). Gegenteilig zu Art. 20 a GG: Groß, ZUR 2021, 75 (78).

14 Versteyl/Marschhäuser, „Überragendes öffentliches Interesse“ als Abwägungsbelang zur Beschleunigung von Klimaschutzvorhaben, KlimR 2022, 74.

Weiterhin bürokratisch-manuelles Konzept

Weiterhin ist die Vorhabenzulassung eine behördliche Einzelfallentscheidung durch traditionelle menschliche Sachbearbeitung.

Wenig wird in der Richtung Prozesse durch maschinelle Unterstützung erledigt. Es gibt keine Automatisierung1a durch Nutzung von KI. Also nicht: den digitalen Bauentwurf einem Behördenprotal hochladen, wo er mit maschineller Unterstützung in kürzester Zeit überprüft wird. § 35a VwVfG erlaubt seit 2016 vollautomatische Verwaltungsakte, wird aber real kaum angewandt und geht auf die historische Zweiteilung komplexer Verwaltungsverfahren in gebundene Entscheidungen und Planfeststellungen nicht ein. Selbst ein durchschnittliches Baugenehmigungsverfahren ist so komplex, dass es derzeit automatisiert schwer umsetzbar erscheint.1b

Um individuelle Betroffenheiten in das Verfahren einzubringen könnten die Abgabe von Stellungnahmen auf einer eigens eingerichteten Homepage sowie die Abhaltung etwaiger Erörterungstermine via Videokonferenz2 zeitgemäß für Schnelligkeit, für mehr Beteiligung und für mehr Akzeptanz sorgen.

„Intelligente Assistenten“ könnten eingesetzt werden, die nach einer Überprüfung dem menschlichen Sachbearbeiter einen Prüfbericht vorlegen. Auch Umweltbezüge könnten stärker automatisiert überprüft werden, sofern sie wie in der Technischen Anleitung Luft ingenieurstechnisch abbildbar sind.

Eine KI-gesteuerte Bearbeitung wird als futuristisch und in weiter Ferne angesehen, da die Verwaltung an vielen Orten immer noch beträchtliche Probleme mit elektronischer Aktenführung aufweist.3 Nur einige Nischenanwendungen sind angeschoben. So prüft der Bund eine KI-basierten Wissensplattform, die zu jeder Frage im Bereich des Artenschutzes verlässliche und zitierfähige Informationen abrufbar gestalten soll.4

1a Roth-Isigkeit, Automatisierung im Baugenehmigungsverfahren, NVwZ 2022, 1253.

1b Roth-Isigkeit, Automatisierung im Baugenehmigungsverfahren, NVwZ 2022, 1253 (1256).

2 Burgi/Nischwitz/Zimmernann, Beschleunigung bei Planung, Genehmigung und Vergabe, NVwZ 2022, 1321 (1325).

3 Roth-Isigkeit, Automatisierung im Baugenehmigungsverfahren, NVwZ 2022, 1253 (1257).

4 BT-Drs. 20/2715, S. 3.

DAS OKSIMO PARADIGMA UND KOMMUNEN – Bürgerbeteiligung und Politische Parteien

UNIVERSELLE PROZESSPLANUNG
13.Juni 2021 – 3. Juli 2021
URL: oksimo.org
Email: info@oksimo.org

Autor: Gerd Doeben-Henisch (gerd@oksimo.org)

KONTEXT

Dieser Text ist Teil des Themenbereichs UNIVERSELLE PROZESSE PLANEN – Aus Sicht der Kommunen im oksimo.org Blog.

BÜRGERBETEILIGUNG und POLITISCHE PARTEIEN

Politische Grundstrukturen

In der deutschen Verfassung ist festgelegt, dass die Bürger in vereinbarten Zeiträumen per Wahl Mitglieder einer anerkannten Partei für ein Vertretungsgremien (in Kommunen, im Landkreis, im Bundesland, im Bund …) wählen können. Es wird angenommen, dass die gewählten politischen Vertreter ‚den Willen des Wählers‘ angemessen in ihrem politischen Handeln vertreten. Die gewählten Vertreter wiederum können in den entsprechenden Handlungsgremien (Gemeindevertretung, Kreistag, Landtag, Bundestag) dann Maßnahmen zur Gestaltung der jeweiligen Gestaltungsbereiche (Kommune, Landkreis, Land, Bund) im Rahmen der geltenden Gesetze beschließen. Zur Unterstützung des politisch motivierten Handelns gibt es auf allen Ebenen Verwaltungseinheiten, die bei der Umsetzung von Maßnahmen unterstützen.

Qualitative Anforderungen und Grenzen

Die politische Grundstruktur soll als Rahmen dienen, damit die Bürger eines Landes auf ein geordnetes Verfahren zurückgreifen können, mit dem sie ihre unterschiedlichen Interessen und ihr unterschiedliches Wissen so organisieren können, dass eine gemeinsame demokratische und nachhaltige Zukunft im Grundsatz möglich ist.

Vom einzelnen Bürger ist bekannt, dass sein individuelles Handeln von seinen inneren Zuständen abhängig ist, die wiederum zwar nicht vollständig, aber zu einem großen Teil, von seiner Lebenswelt beeinflusst werden. Diese Lebenswelt ist ein hybrides System aus objektiv gegebenen gesellschaftlichen Tatbeständen und kulturellen Normen, die in den inneren Zuständen der gesellschaftlichen Akteure verankert sind und wo Inneres und Äußeres grundsätzlich miteinander in Wechselwirkung stehen..

Die verankerten politischen Strukturen müssen also daran gemessen werden, ob, wie und wieweit sie geeignet sind, das Wissen und die Interessen der Bürger so zu unterstützen, dass eine demokratische nachhaltige Zukunft für alle möglich ist.

Die letzten Jahrzehnte zeigen immer mehr, dass die großen Herausforderungen der Gegenwart sich sowohl global wie auch lokal manifestieren (z.B. Klima, Biodiversität, Bevölkerungsentwicklung, Rohstoffe, Trinkwasser, Energieversorgung, Ernährung und Landwirtschaft, Land Grapping (mit Wasser Grapping), Müll (mit Plastik), Migrationsströme, ausgrenzende Weltanschauungen, Technologieentwicklung (insbesondere die Digitalisierung), Pandemien, organisierte Kriminalität, ….) und dass ihre Komplexität alle bestehenden politischen Systeme kontinuierlich überfordert.

Auf der Ebene der Kommunen repräsentieren die gewählten politischen Vertreter einen Anteil von ca. 0.3% (oder, je nach Größe, weit weniger, 0.007%, 0.001% …) aller Bürger. Die einzige Gestaltungsmöglichkeit der Bürger sind laut Verfassung die Wahlen (alle ca. 4-6 Jahre). Die geringe Zahl an gewählten politischen Vertretern ist in keiner Weise kognitiv in der Lage, weder die komplexen Anforderungen einer Kommune angemessen verstehen noch angemessen entscheiden zu können. Die heute üblichen politischen Konkurrenzen zwischen gewählten Parteien engt die Entscheidungskompetenzen weiter ein. Die Kenntnis der eigenen Verwaltung in großen Kommunen scheint bei den gewählten politischen Vertretern weitgehend unzulänglich zu sein. Die Verwaltungen selbst erwecken den Eindruck, dass sie in ihrer Verfasstheit kaum den zu leistenden Aufgaben entsprechen können. Dazu kommt, dass die zeitliche Dimension vieler zu lösenden Aufgaben von 10, 20 und mehr Jahren die in Legislaturperioden agierenden gewählten politischen Vertreter — und damit oft auch den von ihnen abhängigen Verwaltungen — überfordern.

Planfeststellungsverfahren

Zur Frage, ob und wie man Bürger auch zwischen den Wahlen einbeziehen kann oder einbeziehen muss, gibt es ein interessantes Beispiel, das sogenannten Planfeststellungsverfahren [1]. Für den Bereich von raumverändernden Maßnahmen wird festgelegt, auf welche Weise u.a. die Bürger Einsprüche zu einem Maßnahmenentwurf vorbringen können.

Charakteristisch ist hierbei, dass die Bürger erst einbezogen werden, wenn die grundlegenden Überlegungen zuvor schon abgeschlossen sind, ohne dass es eine nennenswerte Zusammenwirkung (Kollaboration) zwischen den handelnden politischen Vertretern und den Bürgern gegeben hat.

Das Verfahren selbst ist meistens extrem langwierig und die Vergangenheit legt den Eindruck nahe, dass diese Verfahren tendenziell eher partikuläre Interessen befördern als begründete Gesamtsichten. Dies verweist auf das grundlegende Problem, dass bei jeder Entscheidung das aktuell verfügbare Wissen und die aktuell gegebene Interessenlage entscheidend ist, dass dieses aktuelle Wissen ohne entsprechendes Training aber gerade nicht über jene prozessuralen [3] Gesamtsichten verfügen kann, die notwendig wären, um real nachhaltige Entscheidungen treffen zu können.

Bürgerentscheid

Seit 2005 gibt es in jedem Bundesland auch das Instrument des Bürgerentscheids [2]. In diesem Verfahren können Bürger mit entsprechender Beteiligung über einen Sachverhalt mit ‚Ja‘ oder ‚Nein‘ abstimmen. Die gewählten politischen Vertreter können einen Gegenvorschlag aufstellen. Wird der Bürgerentscheid positiv entschieden gilt er formal als gleichwertig mit einer Entscheidung von gewählten politischen Vertretern.

Das Verfahren des Bürgerentscheids deutet an, dass den Bürgern als dem eigentlichen Souverän grundsätzlich das Recht zugestanden wird, eine eigene rechtskräftige Entscheidung parallel zu den gewählten politischen Vertretern fällen zu dürfen. Dies ist im Rahmen einer Demokratie und der herrschenden Komplexität in allen Entscheidungsbereichen ein positives Signal.

Dabei sollte man aber nicht übersehen, dass das Verfahren des Bürgerentscheids als solches das grundlegenden Problem einer nachhaltigen Entscheidung nicht automatisch löst. Im Lichte des Wissens um die konkreten Herausforderungen, nachhaltige Entscheidungen unter Berücksichtigung der zeitlichen Horizonte wie auch der starken Wechselwirkungen zwischen vielen Themen zu treffen, scheint das Verfahren des Bürgerentscheids ein weitgehend unbefriedigendes Instrument zu sein. Es kann zwar punktuell im Prinzip mehr Kompetenzen aufrufen als jene, über die die kleine Gruppe der gewählten politischen Vertreter verfügt, aber die kontinuierliche wechselseitige Behandlung von Problemen erscheint hier auch nicht gegeben (abgesehen auch von dem extrem hohen logistischen Aufwand, der den Bürgern in solch einem Verfahren abverlangt wird).

Bürger als Partner?

Angesichts der inhärenten Grenzen im Entscheiden der politischen Vertreter einerseits wie auch der Bürger im Bürgerentscheid andererseits stellt sich die Frage, warum sich nicht die politischen Vertreter auf ihre eigentliche Rolle besinnen, die daraus resultiert, dass die Bürger ihre Auftraggeber sind und als Bürger den primären Kompetenzpool bilden. Statt also die Bürger eher als ‚Feinde‘ zu behandeln, die ihre ‚Arbeit stören oder gar bedrohen‘, würde sich ein kollaboratives, partnerschaftliches Modell empfehlen, in dem die Bürger frei und offen, idealerweise parteiübergreifend, ihre Kompetenzen in nachhaltiger Weise organisieren, und zwar so, dass die gewählten politischen Vertreter darauf kontinuierlich zurückgreifen und sich selbst aktiv an den Orientierungsprozessen beteiligen können, so dass auf nachhaltige Weise damit die verfügbaren Kompetenzen optimal genutzt werden.

Nachhaltiges Wissen

Die sehr gute Kollaboration auf praktischer Ebene alleine garantiert aber auch noch keinen Erfolg, da konkretes Handeln immer abhängig ist von den verfügbaren kognitiven Prozess-Modellen in den Köpfen der Handelnden, und zwar nicht nur in den Köpfen der einzelnen, sondern in den Köpfen aller Beteiligten! Bekanntermaßen kann solch ein gemeinsam geteiltes Prozesswissen nur durch eine kontinuierliche Kommunikation zwischen allen Beteiligten zustande kommen, in der die Prozesse selbst thematisiert werden. Und alles spricht dafür, dass es ferner nicht ausreicht, dass Prozesswissen nur aktuell, punktuell in der jeweiligen Gruppe existiert, sondern es muss auch in einer permanenten Form vorliegen, die speicherbar ist, nachlesbar, hörbar, visuell anschaulich, als simulierter Prozess, als spielbarer Prozess, als interaktiv gestaltbarer Prozess, als evaluierbarer Prozess, und dies alles ausschließlich in der Alltagssprache der Handelnden, um nur die wichtigsten Anforderungen zu benennen.

Oksimo Paradigma

Ein solches multimodales Prozesswissen ist das Ergebnis, wenn Menschen das oksimo Paradigma anwenden. Dies ist möglich, weil das oksimo Paradigma das Ergebnis solcher Reflexionen ist, wie sie im vorausgehenden Text am Beispiel von mehr Bürgerbeteiligung vorgestellt wurden.

DISKUSSION

Hier werden in loser Folge einzelne Beiträge aufgelistet, die sich im Umfeld des Themas ‚Bürgerbeteiligung und politische Parteien‘ bewegen.

  1. Anmerkungen zu Wolfgang Schäuble „Das Prinzip der Repräsentation“, FAZ Nr.149, 1.Juli 2021, S.6 (Letzte Änderung: 3.Juli 2021)

ANMERKUNGEN

[1] Planfeststellungsverfahren, siehe Wikipedia [DE]: https://de.wikipedia.org/wiki/Planfeststellung

[2] Bürgerentscheid, siehe Wikipedia [DE]: https://de.wikipedia.org/wiki/B%C3%BCrgerentscheid

[3] Mit ‚prozessural‘ ist gemeint, dass die Gesamtsicht mit Sachverhalten zu tun hat, die Prozesse darstellen, und dass das Herstellen der Gesamtsicht ebenso an einen Prozess geknüpft ist, weil alle Beteiligten selbst laufende Prozesse darstellen. Es gibt in diesem Zusammenhang keine absolut festen Punkte, sondern nur intermediäre Zustände innerhalb der beteiligten, miteinander verschränkten Prozessen.