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WARUM DEMOKRATIE? Mit Impulsen von Fabian Scheidler und Anne Applebaum

(Letzte Änderung: 7.Nov. 2024)

Autor: Gerd Doeben-Henisch

Kontakt: info@oksimo.org

KONTEXT

Dieser Text gehört zum Thema DEMOKRATIE.

ZUSAMMENFASSUNG

Der Text „Warum Demokratie?“ untersucht im Anschluss an die historische Perspektive aus Teil 1 des Buchs D@W (Demokratie@Work) die Bedeutung und die Herausforderungen der Demokratie aus historischer und aktueller Perspektive. Angeregt von Ideen von Fabian Scheidler wird dargestellt, dass die westliche Welt seit dem 15. Jahrhundert überwiegend durch kapitalistische und staatliche Prinzipien sowie durch Ideologien geprägt wurde, die Unterdrückung und Ausbeutung förderten, statt demokratische Werte zu verbreiten. Dieser Kolonialismus endete größtenteils erst nach dem Zweiten Weltkrieg und wurde in den ehemaligen Kolonialmächten kaum aufgearbeitet.

Die Ausbreitung demokratischer Strukturen nach dem Krieg – begleitet vom „Demokratie-Schock“ [*] und wirtschaftlichem Aufschwung – führte in vielen Ländern formal zur Demokratie. Der Zerfall der Sowjetunion und die Liberalisierung Chinas in den 1980iger Jahren verstärkten diesen Trend und befeuerten eine neue Globalisierung. Seitdem hat jedoch ein Umdenken zum Konzept ‚Kapitalismus‘ und ‚Staat‘ begonnen, mit den neuen Paradigmen Nachhaltigkeit und gemeinsame Verantwortung, um die früheren Ideologien zu ersetzen.

Gleichzeitig bestehen weltweit erhebliche Widerstände gegen diese Transformationen, unter anderem durch Kapital- und Machtinteressen, die gegen Demokratie und nachhaltige Visionen wirken, wie sie Anne Applebaum ausführlich schildert. Staaten wie Russland und China entwickeln sich zunehmend autokratisch, und auch in vielen anderen Ländern werden Demokratien durch gezielte Desinformation geschwächt, um den Wandel zu verhindern. Global findet eine immer stärkere Vernetzung von Autokraten statt.

Der Text thematisiert schließlich, dass sich die Idee einer globalen Verantwortung für den Planeten trotz ihres Potenzials noch nicht in der Gesellschaft verankern konnte und dass alte Ideologien weiterbestehen.

Warum also Demokratien? Die Frage geht in die nächste Runde.

[*] Der Ausdruck ‚Demokratie-Schock‘ wurde vom Autor neu gebildet angesichts der historischen Tatsache, dass sich ab den 1920iger Jahren in Europa und Südamerika viele neue, moderne Demokratien gebildet haben; nach dem zweiten Weltkrieg noch verstärkt! Ab den 1990iger Jahren finden sich ebenfalls viele Demokratie-Neubildungen in Afrika und Asien, wenngleich nicht so ausgeprägt (Siehe für Details Kapitel aus dem D@W Buch )

WARUM DEMOKRATIE?

In den Entwürfen zum Buch ‚Demokratie@Work‘ (D@W) wird in diesem Blog versucht, zu beschreiben, was ‚Demokratie‘ ist. Im Einleitungstext ‚Wir sind demokratisch‘ klingt aber schon an, dass eine Demokratie auf diesem Planeten weder selbstverständlich ist noch von allen als ‚erstrebenswerter Zustand‘ angesehen wird. In der Gegenwart des Jahres 2024 kann man sogar den Eindruck gewinnen, dass die noch verbliebenen Demokratien auf dem Planeten aktuell immer mehr unter Druck geraten und in Frage gestellt werden. Deswegen hier eine Zwischenüberlegung: Warum Demokratie?

IMPULS SCHEIDLER

Ein interessanter Impuls für diese Überlegungen kommt von einem Vortrag von Fabian Scheidler, den er am 18.Oktober 2024 als Einführungsvortrag der Labortagung „Künstlerische Lehre und Vermittlung in der Klimakrise“ gehalten hat. [1]

Der Titel selbst wirkt nicht unbedingt so, als ob er uns etwas zum Thema Demokratie sagen kann, und tatsächlich spielt das Thema ‚Demokratie‘ in diesem Vortrag keine zentrale Rolle, aber die Rekonstruktion der letzten Jahrhunderte unter dem Einfluss der westlichen Welt lässt die leitenden Prinzipien dieser westlichen Welt sehr klar hervor treten. Diese Prinzipien hatten nichts mit ‚Demokratie‘ im modernen Sinne zu tun, im Gegenteil. Wir begegnen in der Geschichte seit dem 15.Jahrhundert einer Welt, die von Europäischen politischen Einheiten und Nationen in einer Weise erobert, und blutig ausgebeutet wurde, die eher das krasse Gegenteil von modernen Demokratien darstellten. Später sprach man von diesen Jahrhunderten als der ‚Kolonialzeit‘ und von ‚Kolonien‘. Diese ‚Kolonialgeschichte‘ endete überwiegend erst nach dem zweiten Weltkrieg und sie wurde in fast keinem der ehemaligen Kolonialmächte bis heute ernsthaft aufgearbeitet!

Und es ist diese dunkle und blutige Geschichte der westlichen Welt, auf die jene drei großen Strukturen zutreffen, die Scheidler in seinem Vortrag eindrucksvoll herausarbeitet. (1) Das kapitalistische Prinzip mit dem Grundsatz: Kapital als Selbstzweck, ohne Rücksicht auf den Kontext. (2) Das Staatsprinzip als ‚Macht zum Erobern‘, auch ohne Rücksicht auf Kontexte. (3) Eine jeweils passende ‚Ideologie‘, die all das rechtfertigt, was da geschieht. Mit diesen Prinzipien kann man einige Jahrhunderte der Vorherrschaft des Westens (lange Zeit nur Europa!) in der Welt erklären, samt der damit einhergehenden Unterdrückung vieler Völker (Kolonialismus), und der ungehemmten Ausbeutung der natürlichen Ressourcen.

[1] Fabian Scheidler: Die Klimakrise als Zivilisationskrise, siehe: https://m.youtube.com/watch?v=39aOX-Atiew. TEXT: Der Vortrag schlägt den Bogen von den globalen Krisenprozessen unserer Zeit (Artensterben, Klima, Spaltung zwischen Arm und Reich, Krise der politischen Repräsentation, geopolitischer Umbruch, Krieg in der Ukraine und Nahost) über die Strukturen der globalen Megamaschine (endlose Kapitalakkumulation, militarisierte Staaten, westliche Vorherrschaft, ideologische Macht) über die Grenzen der Naturbeherrschung bis zur Rolle der Kultur und des Theaters in den großen Umbrüchen unserer Zeit. Dabei bezieht er sich auf die Bücher „Das Ende der Megamaschine. Geschichte einer scheiternden Zivilisation“ (https://www.megamaschine.org), „Der Stoff, aus dem wir sind. Warum wir Natur und Gesellschaft neu denken müssen“ (https://fabian-scheidler.de/der-stoff…) und „Das geistige Feld. Essentialien des Theaters“ (https://fabian-scheidler.de/buecher/#…)

DEMOKRATIE SCHOCK

Worüber Scheidler nicht spricht, das ist der ‚Demokratie-Schock‘, der nach dem Ende des zweiten Weltkriegs Europa erfasste und sich im Kontext der De-Kolonisalisierung dann auch weltweit auswirkte. [1] Staaten die zuvor Kolonialmächte oder ‚unterdrückte Länder‘ waren, übernahmen rein formal plötzlich das Format einer ‚Demokratie‘. Dieser Demokratie-Schock ging einher mit dem ‚Kalten Krieg‘ (fast nahtlos nach dem Ende des zweiten Weltkriegs) sowie wirtschaftlichem Aufschwung in einem Teil der Länder.

Das vorläufige Ende des Kalten Krieges mit dem Ende der alten Sowjetunion (ungefähr Ende der 1980iger Jahre) und die vorübergehende Liberalisierung Chinas [2] verstärkte den Demokratie-Schock, und führte die Wirtschaft global zu neuen Höhenflügen.

[1] Siehe zu dieser historischen Perspektive auch die Einleitung zum Buch D@W.

[2] Unter Deng Xiaoping (1978 – 1989) gab es im Bereich Wirtschaft eine Liberalisierung, die aber keinerlei Entsprechung auf Seiten der Kommunistischen Partei hatte. Mit Beginn des Amtsantritts von Xi Jinping (ab 2012) wurde diese Liberalisierung schrittweise zurück genommen. Die kommunistische Partei übernahm weitgehend die Kontrolle über die Wirtschaft. Siehe zum Einstieg in die Geschichte der Volksrepublik China die Seite https://de.wikipedia.org/wiki/Geschichte_der_Volksrepublik_China

TRANSFORMATION WICHTIGER PARADIGMEN – Unvollendet

Neben dem aufbrechenden Demokratieschock und einer beginnenden globalen Wirtschaft begann aber im ‚Denken‘ in mehreren Bereichen — in der Wissenschaft seit ca. 150 Jahren, in Wirtschaft und Gesellschaft seit ca. 60 Jahren ein Prozess, in dem die bisherigen Kategorien Kapital, Staat, Ideologie und Umwelt immer mehr ’neu gedacht‘ wurden.

So wurde (1) das Prinzip des ‚blinden Kapitalismus‘ seit den 1970iger Jahren zumindest im Denken ersetzt durch das Prinzip der ‚Nachhaltigkeit‘. Auf einem endlichen Planeten kann man nicht ‚unendlich‘ konsumieren und verwüsten. (2) Das Staatskonzept ‚Macht zum Erobern‘ wurde sowohl im Denken als auch in der Realität seit dem zweiten Weltkrieg ersetzt durch das Prinzip ‚demokratischer Staat‘. Die jeweils herrschende Macht sollte mehr unter Kontrolle der gesamten Bevölkerung gebracht und mit minimaler ‚Verantwortung für das Ganze‘ ausgestattet werden. Dazu auch die Gründung der ‚Vereinten Nationen‘ als gemeinsame Plattform für alle Völker. (3) Die großen ‚Ideologien der Vergangenheit‘ wurden durch die modernen Naturwissenschaften und die moderne Wissenschaftsphilosophie — zumindest in der Wurzel — ‚in der Wurzel‘ ausgerottet.

GLOBALE WIDERSTÄNDE GEGEN TRANSFORMATIONEN

Bedenkt man, wie stark und mächtig die Interessen des Kapitals sind, wie mächtig lokale Machtinteressen sein können, und wie anspruchsvoll letztlich die Realisierung einer Demokratie ist, so darf es nicht wundern, dass sich weltweit starke Widerstände gegen alle Tendenzen in Richtung mehr Demokratie oder mehr ‚Integration‘ von Wirtschaft und Gesellschaft‘ in das neue Denken geregt haben.

Der Auflösung der Sowjetunion folgte unmittelbar eine ‚Revolution von Innen‘, in der sich eine Machtelite im Umfeld von Putin Russland ‚zurückholte‘ und schrittweise in eine Autokratische Oligarchie zurück verwandelten. [1] Der kurzzeitigen Liberalisierung Chinas folge auch wieder eine zunehmende Autokratisierung mit umfassender Kontrolle aller Bürger. Viele andere Staaten weltweit folgten dem Modell von Autokratien. Die noch vorhandenen Demokratien werden von unterschiedlichen Machtzentren aus zunehmend mit falschen Erzählungen geflutet, deren Ziel darin besteht, Veränderungsvisionen (z.B. Nachhaltigkeit) zu diskreditieren, die den angestammten Interessen widersprechen. Neben den reinen Kapitalinteressen mischen sich zunehmend auch Machtinteressen ein, deren primäres Interesse die ‚Destabilisierung solcher Staaten‘ ist, die mit Demokratie und Nachhaltigkeit autokratische Systeme in Frage stellen.[2]

Die Transformation der ‚alten Ideologien‘ (fast alle Religionen im Kontext von Eroberungen) zu einer neuen globalen Sicht, die den Planeten und das Leben auf dem Planeten als eine dynamische Einheit sieht, für die alle Verantwortung tragen, diese neue Sicht hat sich noch nicht bis in den Alltag ausbreiten können, zumindest nicht in alltagstauglichen Formaten, die jeder versteht. So trifft diese neue Ideologie nicht nur auf ein breites Unverständnis, sondern die alten Ideologien leben weiter, werden weiterhin von Machtinteressen instrumentalisiert, um die eigenen Machtinteressen zu schützen.

[1] Siehe hierzu die umfassende Darstellung von Catherine Belton „Putins Netz“, 2022, HarperCollins Hamburg (Englisch: 2020)

[2] Zu diesem ganzen Komplex eine sehr informative umfassende Darstellung von Anne Applebaum, ihr Buch „Die Achse der Autokraten“, 2024, Siedler Verlag

WARUM DEMOKRATIE(en) ?

Die voranstehende Skizze zum Aufkommen von modernen Demokratien und ihre vielfachen Infragestellungen bis hin zu möglichen Auflösungserscheinungen beantworten die Frage ‚Warum Demokratie(en)‘ noch nicht wirklich. Demokratien erscheinen als ein junges, innovatives Phänomen auf der Bühne der Geschichte, das in den 2020iger Jahren deutlich unter Druck gerät. Ist es wirklich wichtig? Warum genau? Was müssen wir tun, wollen wir die Demokratien auf diesem Planeten erhalten?

Der Text dazu ist schon in Arbeit 🙂