UNIVERSELLE PROZESSPLANUNG
26.Juli 2021 – 03. August 2021
URL: oksimo.org
Email: info@oksimo.org
Autor:
Philipp Westermeier (philipp@oksimo.org)
Kontext
Dieser Blogeintrag bildet einige wichtige Hintergrundinformationen zu Das Oksimo Paradgima und Desintegrationsprozesse ab. Er dient dazu, eine soziologische Begriffsübersicht im Oksimo-Blog herzustellen.
Uwe Schimank
Ideengeschichte und Begriff
Im soziologischen Diskurs verbreitete sich der Begriff der Differenzierung mit Herbert Spencers „evolutionärer Deutung gesellschaftlicher Entwicklung“ (Schimank (2018), S. 67), welche sich prozesshaft von einer homogenität zu einer heterogenität entwickle. Explizit differenierungstheoretisch positionierten sich später Emile Durkheim und Georg Simmel. Karl Marx sowie Max Weber gebrauchten diesen Begriff zwar auch, aber „nicht an prominenter Stelle“.
Anschließend an die vorhergegangenen Denker positionierten sich Talcott Parsons und Niklas Luhamann. Amerikanische „Neofunktionalisten“ trugen die Perspektive in den 1980er und 1990er Jahren weiter, wobei sie „kritisch [an Parsons] anknüpften“. Heute bilden Uwe Schimank sowie Hartmann Tyrell die „verschiedenen Stränge expliziten und implizierten differenzierungstheoretischen Denkens“ in Deutschland ab (vgl. ebd).
Definiert wird der Begriff als Prozess und Struktur gleichzeitig. Strukturell meint Differenzierung, „dass eine Gesellschaft aus einer [gleichartigen oder ungleichartigen] Mehrzahl distinkter Teile besteht“. Es setzt also die Sesshaftwerdung und eine Stammes-Verbundsgröße voraus. Prozessual meint der Begriff eine „Dynamik, die eine bestimmte gesellschaftliche Differenzierungsstruktur hervorbringt und verändert“. Dieses Konzept sei auf „alle Arten menschlicher Gesellschaften anwendbar“ (vgl. S. 67).
Zwei „miteinander komplementäre“ Paradigmen sind in der Soziologie anzutreffen; „das Dekompositions- und das Emergenzparadigma“ (S. 68). Das erstere zäumt das Pferd von hinten, das letztere von vorne auf.
Modellierung der Systemarchitektur
Dekompositions-Paradigma
Als gesellschaftliche Differenzierung bennen Durkheim und Parsons den „Prozess der Dekomposition einer funktional diffusen Einheit – einer Rolle oder Institution – in mehrere, mindetens zwei, funktional spezifischere Einheiten“ (S. 68).
Dabei meint Durkheim die „Spezialisierung von Berufen in der Industriegesellschaft“, Parsons denkt den Begriff im Rahmen seiner Systemtheorie. Subsysteme erzeugen und differenzieren sich zu immer ‚kleiner‘ werdenden Subsystemen aus.
Diese paradigmatische Perspektive „hebt die Vorteile funktionaler Spezialisierung für die Gesellschaft als Ganze hervor“.
Dem Argument der gesellschaftlichen Differenzierung als sich immer weiter optimierenden Arbeitsteilung, welches Parsons und Durkheim, vertreten, setzt Max Weber eine Perspektive entgegen, welche „den Aufbau und die Geburt moderner Gesellschaften als „Emergenz autonomer [„polytheistischer“] ‚Wertsphären'“ sieht. Niklas Luhmann konkretisiert dies, fügt dem Modell eine weitere Dimension hinzu. Ein Teilsystem stellt nach ihm einen „selbstreferentiellen Kommunikationszusammenhang“ dar, welcher „einem je spezifischen binären Code“ unterläge. Ausdifferenzierte Teilsysteme sind also „Ketten von Kommunikationen“, welche wiederum auf damit kompatible Kommunikationen verweisen kann. Dass diese unterschiedlichen Codierungen zu unterschiedlichen Perspektiven führt, nennt Luhmann „die ‚Polykontexturalität‘ der modernen Gesellschaft“ (vgl. S. 68).
Emergenz-Paradigma
Eine wichtige Betonung des Paradigmas ist, dass „aus der selbstreferentiellen Geschlossenheit der jeweiligen binären Codes“ eine ‚legitime Indifferenz‘, also ein normativ / funktional akzeptiertes Uninteresse „der Teilsysteme füreinander“ entstehe. Eine Konfliktlinie wird zwischen dem eigenen Interesse eines Teilsystems, „nur den code-spezifischen Eigen-Sinn“ zu kultivieren, während von anderen Teilsystemen erwartet wird, dass sie „die jeweils von ihnen benötigten Leistungen zuverlässig erbrächten“.
Darauf aufbauend lassen sich vier „Arten von Triebkräften gesellschaftlicher Differenzierungsvorgänge“ unterscheiden, welche zu „weiteren Binnendifferenzierungen“ führen:
Leistungssteigerung, Evolution, Rationalisierung kultureller Ideen und Akteurineressen (vgl. 69).
Die vor allem durch Parsons hervorgehobene Leistungssteigerung wird durch Leistungsdefizite iniitiert, bei denen gezielte Maßnahmen der Akteur:innen abhilfe leisten können. Werden solche Leistungsdefizite nicht erkannt, oder erkannt und nicht behoben, „kommt es zu einer evolutionären Beseitigung des Defizits ‚hinter dem Rücken‘ der Akteure“ (vgl. 69f).
Parsons attestiert der Evolution die Urheberschaft an gesellschaftlicher Leistungssteigerung, nicht der „geplante[n] Arbeitsteilung“, obwohl dies in „Organisationen durchaus vorkommt“ (S. 70).
Luhmanns „neo-darwinistische“ Perspektive auf Evolution ist ein Zusammenspiel dreier Mechanismen: Variation (von bspw. juristischem Rechtsverständnis), Selektion (derer bei Anwendung in anderen Urteilen) und Retention (die Etablierung zur ‚herrschenden Meinung‘).
Dort wo Parsons eine lediglich eine Leistungs- bzw. Fortschittssteigerung sieht, bringt laut Luhmann „Evolution leistungssteigernde[,] aber genauso gut auch dysfunktionale Differenzierungen“ hervor.
Unter der Annahme, eine „voranschreitende Differenzierung auf der Ebene jedes Teilsystems [würde] Leistungssteiergungen“ hervorbringen, meint Luhmann, führe dies zu Komplexitätssteigerung sowie zur Manifestation „zunehmender Instabilität und damit Riskanz der gesellschaftlichen Ordnung“ (vgl. S. 70).
Für Weber führt „die eigendynamische Rationalisierung kultureller Werte“ zur „selbstreferentielle[n] Schließung der betreffenden ‚Wertsphäre‘. Dies sei die Triebkraft gesellschaftlicher Differenzierung (ebd.).
Akteursmodellierung
„Gesellschaftliche Differenzierung wird schließlich auch durch entsprechende
Interessen von Individuen, Gruppen oder Organisationen vorangetrieben“ (S. 70). Dazu meint Durkheim, Hauptinteresse der Arbeitsteilung liege bei der „Konkurrenzvermeidung angesichts wachsender ’sozialer Dichte‘ „. Die „Erhaltung oder die Erweiterung der eigenen Autonomie“, die „Kontrolle anderer Akteure“ sowie die „eigene Ressourcenbasis“ sind andere, maßgebliche Interessen. Die Durchsetzung der eigenen Interessen prägt nachhaltig die „Ausdifferenzierung bestimmter Teilsysteme“.
Eine politische Perspektive ist, dass „Differenzierungsschritte“ durch heterogene Mischverhältnisse der Akteure in Teilsystemem zu „Kräfteverhältnissen“ führen. Paul Colomy unterschiedet „strategic groups“: „institutional entrepreneurs“(=“Betreiber“), institutional followers“(=Unterstützer), „institutional conservatives“(= Verteidiger des Status quo) und „institutional accomodationists“(= Vermittler) (vgl. S. 70f).
„Das moderne Individuum profitiert hinsichtlich seiner Lebenschancen von der
immensen Optionssteigerung in allen gesellschaftlichen Teilsystemen – ob es um Konsumchancen oder Sportmöglichkeiten, „lebenslanges Lernen“ oder medizinische Leistungen geht. Die Kehrseite ist der Verlust traditionaler sinnstiftender Bindungen der Person an stabile Gemeinschaften und Werte“(S.71)
„Funktionale Differenzierung bedingt eine Reihe weiterer prägender Merkmale der modernen Gesellschaft: u.a. die Individualisierung der Personen, die immer
stärkere Durchdringung fast aller Teilsysteme mit formalen Organisationen, die kulturelle Säkularisierung und das Aufkommen eines Fortschrittsglaubens, für den die Zukunft eine Projektionsfläche für Ansprüche an immer weitere Leistungssteigerungen aller Teilsysteme wird. Das so umrissene, um funktionale Differenzierung zentrierte Konglomerat von Strukturdynamiken der Moderne stellt sowohl für
die Gesellschaft als Ganze als auch für jedes einzelne Gesellschaftsmitglied einen gemischten Segen dar“ (S. 71).
Die „Optionssteigerung in allen gesellschaftlichen Teilsystemen“, also „Konsumchancen oder Sportmöglichkeiten, ‚lebenslanges Lernen‘ oder medizinische Leistungen“, wird als Profitmöglichkeit verstanden. Dies jedoch führt zur Aufgabe “ traditionaler sinnstiftender
Bindungen der Person an stabile Gemeinschaften und Werte“ (ebd.).
Die funktionale Differenzierung moderner Gesellschaften ist als „offensichtliche evolutionäre Alternativlosigkeit“ und „Erfolg“ zu verstehen, da Nationen und Völker, welche diese Art der gesellschaftlichen Entwicklung nicht durchgemacht haben, „wirtschaftlich, militärisch und kulturell überrannt worden“ seinen.
Deren Risiken sind erstens – bezogen auf die gesellschaftliche Sozialintegration – ein damit „korrespondierender Anspruchsindividualismus“, welcher die „teilsystemischen Leistungsproduktionen“ überfordert (ebd.).
Zweitens sei die „ökologische[] Integration“ also die Umweltzerstörung durch den Menschen eine Verantwortung, welche die Gesellschaft nicht „im Rahmen seiner je eigenen teilsystemischen Logik“ derzeit nicht übernimmt. Drittens führt eine Verselbstständigung von Teilsystemen dazu, dass diese möglicherweise „die von anderen Teilsystemen benötigten Leistungen nicht mehr liefern“ können und so zu einer Prekarität in verschiedenen Teilsystemen führen können.
Weiterführende Literatur
Alexander, J. (1990). Differentiation Theory: Problems and Prospects. In: J. Alexander & P. Colomy (eds.): Differentiation Theory and Social Change. (S. 1-16). New York: Columbia UP.
Alexander, J. & Colomy, P. (eds) 1990. Differentiation Theory and Social
Change. New York: Columbia UP.
Durkheim, E. (1977) (zuerst 1893). Über soziale Arbeitsteilung, Frankfurt/M.: Suhrkamp.
Luhmann, N. (1997). Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt/M.: Suhrkamp.
Mayntz, R., Rosewitz, B., Schimank, U. & Stichweh, R. (1988). Differenzierung und Verselbständigung, Frankfurt/M.: Campus.
Parsons, T. (1972). Das System moderner Gesellschaften, München: Juventa. Schimank, U. (1996). Theorien gesellschaftlicher Differenzierung, Opladen: Leske + Budrich.
Schimank, U. (2013). Gesellschaft, Bielefeld: transcript • Schwinn, T. (2001). Differenzierung ohne Gesellschaft. Weilerswist.
Schwinn, T., Kroneberg, C. & Greve, J. (Hg.) (2011). Soziale Differenzierung. Wiesbaden: VS Verlag.
Tyrell, H. (1978). Anfragen an die Theorie der gesellschaftlichen Differenzierung, Zeitschrift für Soziologie, 7, 175-193.
Tyrell, H. (1998). Zur Diversität der Differenzierungstheorie. Soziologiehistorische Anmerkungen, Soziale Systeme 4, 119-149
Literatur